Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
die Karte auseinander und sah sich die Wegstrecke an.
Fast achtzig Kilometer, schätzte sie. Zwei lange Tage. Sie ließ Lanys Pferd angebunden zurück; falls sie freigelassen wurde, würde sie es brauchen, um nach Orange zurückzukehren.
»Komm, meine Gute«, sagte sie zu Jellybean. »Bring mich heim.«
In dem Raum befand sich ein kleines Fenster, das zum Hof hinausging. Das Gelände mit seinen Gärten und Spielplätzen und Wäscheleinen machte einen ganz anderen Eindruck als zu der Zeit, als sie hier vor Jahren Seminare besucht hatte. Sie sah einem dunkelgelockten jungen Mann nach, der über die Wiese ging. Er trug eine Kiste und - wenn sie ihre Augen nicht täuschten - eine Art Lederschutz am Arm.
Sie musste sofort an Falknerei denken. Aber hier, inmitten einer verlassenen Stadt? So etwas wurde einst auf Burgen und Schlössern betrieben, erinnerte sie sich. Zu früheren Zeiten waren das die Städte gewesen. Alle Leute, die sie hier sah, machten einen gesunden und wohlgenährten Eindruck; vielleicht waren die Falken darauf trainiert, kleineres Wild zu schlagen, Kaninchen, Fasane, Eichhörnchen …
Ratten, Mäuse, Frettchen, Schlangen …
Sie unterdrückte die ekelhaften Bilder. Wenn sie ihr etwas zu essen geben sollten, würde sie es einer genauen Prüfung unterziehen.
Die Tür öffnete sich; sie trat rasch von dem Fenster weg und stellte sich in eine Ecke. Es war wieder der Mann mit dem Narbengesicht.
Er hatte zwei Gläser in der Hand. Eines davon bot er ihr an. »Zitronenlimonade«, sagte er.
Sie starrte das Glas an, völlig verdutzt.
»Sie haben Zitronen?«
»Und Limonen. Wir ziehen sie in einem speziellen klimatisierten Raum. Dazu verwenden wir Sonnenenergie und ultraviolettes Licht.« Er hielt ihr noch einmal das Glas hin. Sie betrachtete es misstrauisch. Nacheinander nahm er von jedem Glas einen Schluck. »Sehen Sie?«, sagte er. »Weder mit Gift noch mit Drogen versetzt. Ganz natürlich, wie in der guten alten Zeit.«
Sie machte einen Schritt nach vorn und nahm ihr Glas. »Danke«, sagte sie. Es war himmlisch, als sich der Geschmack der Limonade in ihrem Mund ausbreitete. »Wow, danke«, sagte sie noch einmal begeistert. »Mein Gott, schmeckt das gut.« Sie trank den Rest der Limonade in einem langen, durstigen Zug aus.
Bruce lächelte und setzte sich auf einen Stuhl. »Hören Sie«, sagte er, »ich möchte gleich auf den Punkt kommen. Für irgendwelche Spielchen haben wir keine Zeit.«
Na klar, dachte sie voller Argwohn, erst machst du mich mit Limonade weich, dann quetschst du mich nach Informationen aus …
»Wir wissen, dass sich in New Jersey eine Zelle befindet, die unserer Erkenntnis nach die nächstgelegene ist. Kommen Sie vielleicht von dort?«
Zelle? New Jersey? Sie war verwirrt.
»Nein, ich … ich komme nicht aus New Jersey.«
»Gibt es vielleicht noch eine Zelle, die näher ist?«
»Wovon reden Sie überhaupt, Zelle …«
»Spielen Sie mir nichts vor.«
»Das tue ich nicht. Ich weiß ehrlich nicht, wovon Sie sprechen.«
»Warum sind Sie dann hier?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wir - wir haben eine E-Mail bekommen. Sie hat uns zu einer Website für Doppeldeltas
weitergeleitet. Und dort haben wir von dem Treffen gelesen.«
Bruce ließ ein paar Minuten verstreichen, während er sie musterte, um herauszukriegen, ob sie seine Fragen tatsächlich so durcheinanderbrachten, wie es den Eindruck machte. Schließlich brachte er die brennendste Frage aufs Tapet: »Hat die Koalition Sie geschickt, damit Sie das Treffen ausspionieren?«
»Was?«
»Die Koalition. Die Gruppe …«
»Ich weiß, was die Koalition ist. Ich war mal …«
Sie unterbrach sich.
»Was waren Sie mal?«
Sie gab keine Antwort.
»Sehen Sie«, sagte er und zeigte jetzt ganz offen seine Ungeduld. »Ich bin es nicht gewohnt, jemanden zu verhören. Ich habe keine Ahnung davon. Aber ich muss ein paar Dinge wissen, und Sie waren dort draußen. Wie wäre es damit: Ich sage Ihnen, was wir wissen, und dann können Sie mir vielleicht das eine oder andere von Ihnen verraten, womit ich Sie und die Gruppe, der Sie angehören, meine, wer das auch sein mag. Abgemacht?« Sie hatte immer noch den Geschmack der Zitrone im Mund. Man hatte ihr nichts zuleide getan; dieser Mann mit den scheußlichen Narben schien genauso sehr wie sie selbst wissen zu wollen, was in Worcester vor sich ging. Schließlich fand dieses Treffen praktisch vor seiner Haustür statt.
Zumindest der Teil des ehemaligen Campus, den sie gesehen
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