Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
Janie erklärt, Alejandro habe - laut seinem Journal - in einem Zimmer mit seiner Schwester geschlafen und sich vor ihren Augen angezogen, und der hätte schließlich auch keinen Schaden davongetragen, oder? Die Kinder waren im Grunde wie Bruder und Schwester und nicht wie Freunde.
»Raus aus den Federn«, sagte sie. Sie zog die Vorhänge auf und ließ das Licht herein.
Sarah, die immer die Erste war, hob gleich den Kopf.
Alex musste wie meistens sanft wachgerüttelt werden. »Aufwachen, Faulpelz«, sagte Janie zu ihrem Sohn. »Du verschläfst ja noch den ganzen Tag!«
Dieser Teil des Morgens war ihr besonders lieb, denn kaum hatte sich Alex aus den Tiefen des Schlafs emporgekämpft, lächelte
er, streckte die Arme nach ihr aus und erfüllte sie mit der Wärme seines kleinen Körpers. Sie gab ihn immer nur ungern wieder frei.
»Aufstehen, ihr beiden«, sagte sie.
Die beiden krochen in ihren Schlafanzügen unter den Decken hervor. Sarah kletterte die Leiter hinunter, wobei sie die letzten beiden Sprossen sprang. Mit einem lauten Bums landete sie grinsend auf dem Boden, die kleine Kunstturnerin, die der jubelnden Menge gerade eine perfekte Landung vorgeführt hatte. Janie zuckte zusammen, sagte aber nichts; als sie zur Tür hinausrannten, strich sie schnell die Decken auf den Betten glatt. Mütter machten sich Sorgen, und sie räumten ihren Kindern ständig hinterher; es gab Dinge, die änderten sich nie.
Als sie in den Gemeinschaftsraum kam, sah sie, dass Sarah sich an Caroline klammerte, noch etwas, das sich nie ändern würde. Im Blick des kleinen Mädchens spiegelte sich eine Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Janie wurde klar, dass Sarah ihren Vater noch nie in seinem Schutzanzug gesehen hatte, zumindest nicht die letzten Jahre. Wenn, dann war das zu einer Zeit gewesen, als sie noch nicht begriff, was beängstigend war und was nicht. Doch jetzt verstand sie wohl auch ohne Erklärung und ohne weitere Erfahrung, dass die Ausrüstung, die ihr Vater trug, bestimmte Gefahren implizierte.
Alex wiederum stand neben Michael, neugierig - furchtlos, wie immer, dachte Janie. Genau wie sein …
Sein was? In den Jahren, seit ihr Sohn auf die Welt zurückgekehrt war, hatte sie noch immer keine befriedigende Bezeichnung für seine Beziehung zu Alejandro gefunden. Vater stimmte nicht, schließlich war Tom sein Vater. Original traf es auch nicht. Zwilling war das Beste, das ihr einfiel, aber aus irgendeinem nicht greifbaren Grund gefiel ihr auch das nicht.
Es ist nicht wichtig, sagte sie sich. Wirklich wichtig war nur, dass er gesund, halbwegs glücklich und ganz er selbst war, trotz seiner Abstammung.
Der kleine Junge drehte sich nicht um, als seine Mutter sich
räusperte. Er wandte seinen Blick keine Sekunde von Michael in seiner aufregenden Schutzausrüstung. Langsam fuhr er mit der Fingerspitze an der verschweißten Naht der Hose entlang, jeden Stich ertastend. Janie stellte sich vor, wie ein Adrenalinstoß durch ihn ging, und versuchte die Aufregung ihres Sohnes nachzuempfinden. Aber sie wusste und begriff zu viel, um darüber staunen zu können.
Er drehte sich um und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an: »Mom, das ist echt cool!«
Sie fragte sich, woher er dieses Wort hatte.
»Weiß Dad davon?«
Sie brachen in Lachen aus; es war eine willkommene - wenn auch kurze - Ablenkung von der Bedrohlichkeit der Situation. Tom kam aus dem benachbarten Zimmer zu ihnen, und auch er musste lachen. »Ja, ich weiß davon. Tolles Ding, oder?«
In seinen Händen trug er etwas, das in dunkles Tuch eingewickelt war. Er legte es auf den Tisch und sagte zu Michael: »Kein Stäubchen dran und sofort einsatzbereit.«
Janie und Caroline wussten beide, was sich in dem Tuch befand. Es war zwar nicht dieselbe Pistole, die Janie auf ihrem letzten Ritt zu dem Camp vor so vielen Jahren bei sich gehabt hatte, aber dasselbe Modell.
»Sechs«, sagte Tom leise.
Michael nickte zufrieden. »Nur für den Fall der Fälle.« Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet, selbst Alex war einen Schritt zurückgetreten. Michael sah sie nacheinander an, dann sagte er: »Dann ist es wohl an der Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Die St.-Patrick’s-Parade wartet auf mich.«
Die Frauen und Kinder standen paarweise zu beiden Seiten des Tors. Tom würde Michael bis zur Bergkuppe begleiten. Die bergauf führende Straße, deren miserabler Zustand sich durch den harten Winter wohl kaum verbessert hatte, war sicher noch vereist. Der Frühling kehrte
Weitere Kostenlose Bücher