Aleph
bitten? Oder deine Kollegen neidisch machen, indem du ihnen von deiner Reise erzählst?«
»Ich bin hingegangen, um herauszufinden, ob es mich wirklich gibt. Nach dem, was im Zug passiert ist, war ich mir über nichts mehr sicher. Was ist überhaupt passiert?«
Ich weiß genau, was sie meint. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal mit dem Aleph in Berührung kam, zufällig, 1982, im Konzentrationslager Dachau. Hinterher war ich tagelang völlig durcheinander, und ohne meine Frau, die mich eines Besseren belehrte, wäre ich überzeugt gewesen, einen Schlaganfall erlitten zu haben.
»Was genau hast du empfunden?«, will ich von Hilal wissen.
»Mein Herz hat wie verrückt geschlagen, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr auf dieser Welt zu sein. Ich war völlig panisch und dachte, gleich muss ich sterben. Es war richtig unheimlich, und hättest du mich nicht am Arm gepackt, stünde ich wohl jetzt noch am selben Fleck. Mir war, als wären es ungeheuer wichtige Dinge, die da vor meinen Augen auftauchten, aber ich verstand überhaupt nichts.«
Am liebsten hätte ich gesagt: Daran musst du dich gewöhnen.
»Das Aleph«, sage ich.
»Ja, genau. Irgendwann während dieser schier endlosen Zeit, die ich wie in Trance verbrachte, hörte ich dich dieses Wort sagen.«
Schon allein die Erinnerung erfüllt sie wieder mit Angst. Das muss ich ausnutzen.
»Glaubst du, dass du die Reise fortsetzen solltest?«
»Mehr denn je. Angst hat schon immer einen besonderen Reiz auf mich ausgeübt. Du erinnerst dich doch noch an die Geschichte, die ich damals in der brasilianischen Botschaft in Moskau erzählt habe?«
Ich bitte sie, an die Bar zu gehen und Kaffee zu holen. Ich habe deshalb sie geschickt, weil wir die letzten Gäste sind und der Barmann es gar nicht erwarten kann, endlich die Lichter zu löschen und nach Hause zu gehen. Nach kurzem Hin und Her kommt sie mit zwei Tassen türkischem Kaffee zurück. Als Brasilianer macht es mir nichts aus, am Abend starken Kaffee zu trinken: Ob ich gut oder schlecht schlafe, hängt von anderen Dingen ab.
»Man kann das Aleph nicht erklären, das hast du selbst erlebt. Aber in der Magie zeigt es sich auf zweierlei Weise: Zum einen ist es ein Punkt im Universum, in dem Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aufgehoben sind. Im Allgemeinen stoßen wir zufällig darauf, wie wir in der Transsib.
Damit das geschehen kann, muss der Mensch - oder die Menschen - an dem Ort sein, an dem sich auch das Aleph in diesem konkreten Moment tatsächlich befindet. Wir nennen es das kleine Aleph.«
»Soll das heißen, dass jeder, der in die Transsib einsteigt und an diese Stelle zwischen den Waggons kommt, fühlt, was wir gefühlt haben?«
»Wenn du mich ausreden lässt, wirst du es vielleicht verstehen. Ja, derjenige wird es spüren, aber nicht so wie wir beide. Du bist sicher auch schon mal auf einer Party gewesen und hast bemerkt, dass du dich an einer bestimmten Stelle des Raumes wohler fühlst als anderswo. Das ist nur ein schwacher Abglanz des Aleph, aber die Göttliche Energie nimmt jeder Mensch anders wahr. Wenn du auf einer Party die Stelle findest, wird diese Energie dir helfen, selbstsicherer und präsenter zu sein. Falls jemand die entsprechende Stelle im Zug passiert, wird er das eigenartige Gefühl haben, auf einmal alles zu verstehen. Aber er wird nicht innehalten und dem Gefühl auf den Grund gehen, und im nächsten Moment wäre alles schon wieder vorbei.«
»Wie viele solcher Punkte gibt es auf der Welt?«
»Genau weiß ich das nicht. Aber wahrscheinlich Millionen.«
»Wie kann sich das Aleph noch zeigen?«
»Lass mich noch zu Ende reden. Das Beispiel mit der Party ist nur ein Vergleich. Das kleine Aleph erscheint immer zufällig. Du gehst durch eine Straße, setzt dich irgendwohin, und plötzlich ist dort das ganze Universum, und du nimmst es wahr. Du wirst das Bedürfnis haben, zu weinen - weder aus Traurigkeit noch vor Freude, sondern weil du nicht weißt, wohin mit deinen Gefühlen. Du weißt, dass du gerade etwas Wichtiges begreifst, auch wenn du es nicht benennen und schon gar nicht erklären kannst.«
Der Barmann kommt zu uns herüber, sagt etwas auf Russisch und gibt mir die Rechnung zum Unterzeichnen. Wir gehen zur Tür.
Vom Pfiff des Schiedsrichters gerettet?
Mitnichten.
»Erzähl weiter: und zweitens?«
»Zweitens gibt es das große Aleph.«
Ich beschließe, ihr lieber gleich alles auf einmal zu erklären, solange sie noch ins Konservatorium zurückkehren und alles
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