Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
Vom Netzwerk:
verzieht noch immer keine Miene, möglicherweise, weil er kein Englisch versteht.
    An die Frau gewandt sage ich: »Keine Angst, im Zug ist nichts >passiert<. Zumindest nicht das, was Sie sich gerade vorstellen. Und was dich betrifft, Hilal, was hätte ich sagen sollen? Dass ich dich vermisst habe? Ich war den ganzen Tag in Sorge um dich.«
    Die Frau übersetzt dem Mann mit der Krawatte, und alle lächeln, auch Hilal. An meiner spontanen Reaktion konnte sie ablesen, dass sie mir tatsächlich gefehlt hat.
    Ich bitte Yao, noch ein wenig zu bleiben, weil ich nicht weiß, wohin das Gespräch führen wird. Wir setzen uns und bestellen Tee. Die schöne Frau stellt sich als Hilals Geigenlehrerin vor und erklärt, der Mann, der sie begleite, sei der Direktor des Konservatoriums von Jekaterinburg.
    »Ich denke, dass Hilal ihr Talent vergeudet«, sagt die Lehrerin. »Sie ist extrem unsicher. Ich habe wieder und wieder versucht, ihr das auszureden. Aber sie hat einfach kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten und denkt, dass die Leute nicht mögen, was sie spielt. Dabei stimmt das gar nicht.«
    Hilal unsicher? Ich habe selten jemanden getroffen, der so genau weiß, was er will.
    »Und wie alle sensiblen Menschen«, fährt die Lehrerin mit einem liebevollen Blick auf Hilal fort, »ist sie, nun ja… sagen wir … etwas instabil.«
    »Instabil«, wiederholt Hilal laut. »Eine höfliche Umschreibung für verrückt.«
    Die Lehrerin sieht sie liebevoll an und dreht sich dann wieder zu mir. Sie wartet darauf, dass ich etwas sage. Doch ich sage nichts.
    »Ich weiß, dass Sie ihr helfen können. Man hat mir gesagt, dass Sie Hilal in Moskau haben spielen hören und dass sie dort viel Applaus bekommen hat. Das spricht für ihre Begabung, denn die Leute in Moskau sind, was Musik betrifft, sehr anspruchsvoll. Sie ist sehr diszipliniert, übt mehr als die meisten und hat hier in Russland schon mit einigen der großen Orchester gespielt, war sogar schon mit einem von ihnen auf Tournee. Aber dann ist irgendetwas passiert. Sie kommt nicht weiter.«
    Ich bin mir sicher, die Frau meint es gut mit Hilal. Sie will ihr wirklich helfen. Doch dieses >Sie kommt nicht weiter< lässt mich hellhörig werden, denn genau aus diesem Grund bin auch ich hier. Der Herr mit der Krawatte kann am Gespräch nicht teilnehmen - er ist wohl einfach eine moralische Unterstützung für die schöne Frau mit dem sanften Blick und die begabte Geigerin. Yao gibt vor, ganz auf seinen Tee konzentriert zu sein.
    »Was kann ich denn tun?«
    »Das wissen Sie genau. Auch wenn sie kein Kind mehr ist, aber ihre Eltern machen sich trotzdem Sorgen. Sie kann nicht so mir nichts, dir nichts ihre Karriere aufs Spiel setzen, nur um einem Hirngespinst hinterherzujagen.«
    Die schöne Frau bricht ab. Ihr ist klar, dass sie sich im Ton vergriffen hat.
    »Oder, besser gesagt, sie kann jederzeit an den Pazifik reisen, aber nicht ausgerechnet während der Proben zu einem neuen Konzert.«
    Ich stimme ihr zu. Doch egal, was ich sagen würde, Hilal ließe sich ohnehin nicht beeindrucken. Wer weiß, vielleicht hat sie die beiden auch nur mitgebracht, um mich auf die Probe zu stellen und herauszufinden, ob sie mir wirklich willkommen ist oder ob sie nicht lieber dableiben soll.
    Ich erhebe mich und sage zu Hilals Lehrerin: »Es war nett, Sie kennenzulernen. Ich finde Ihr Engagement bewundernswert. Aber nicht ich habe Hilal eingeladen. Ich kenne sie doch kaum.«
    Hilals Blick sagt »Lügner!«, doch ich fahre fort:
    »Sollte sie also morgen im Zug nach Nowosibirsk sitzen, können Sie mich nicht dafür verantwortlich machen. Wenn es nach mir ginge, bliebe sie hier. Und wenn Sie sie davon abhalten können, mit uns weiterzufahren, wäre nicht nur ich Ihnen dankbar, sondern auch eine ganze Reihe anderer Fahrgäste.«
    Yao und Hilal brechen in Gelächter aus.
    Die schöne Frau bedankt sich und verspricht, mit Hilal ein ernstes Wort zu reden. Wir verabschieden uns, der Herr in Anzug und Krawatte drückt mir die Hand, lächelt mich an, und mit einem Mal habe ich das ungute Gefühl, dass ihm nichts lieber wäre, als wenn Hilal mit uns fahren würde. Offenbar ist sie auch für das Orchester eine Herausforderung.

Yao bedankt sich für den besonderen Abend und geht auf sein Zimmer. Hilal rührt sich nicht.
    »Ich gehe jetzt schlafen. Du hast gehört, was ich denke. Ehrlich gesagt ist mir nicht ganz klar, warum du ausgerechnet zum Konservatorium gegangen bist. Wolltest du nachträglich um Erlaubnis für die Reise

Weitere Kostenlose Bücher