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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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ihm bei. »Wenn der richtige Augenblick gekommen ist, erkläre ich es Ihnen genauer. Lassen Sie uns zum Hotel gehen.«
    Stattdessen streckt mein Begleiter den Passanten seinen Becher entgegen und bittet um Geld. Anscheinend erwartet er von mir, dass ich das Gleiche tue.
    »Takuhatsu, das Almosensammeln, ist eine Tradition der buddhistischen Mönche in Japan. Abgesehen davon, dass die Klöster von diesen Schenkungen leben, lehrt es den Schüler Demut. Außerdem erfüllt diese Praxis noch einen weiteren Zweck, weil so die Stadt >gereinigt< wird, in der die Mönche leben. Ihrem Glauben nach stellen der Bettelnde, der Gebende und das Almosen ein Gleichgewicht dar. Man bettelt aus Bedürftigkeit, aber auch Geben gehorcht einer inneren Notwendigkeit. Das Almosen dient als Verbindung zwischen diesen beiden Bedürfnissen, und die Atmosphäre in der Stadt verbessert sich, weil jeder das tun kann, was er tun muss. Sie sind ein Pilger, es wird Zeit, dass Sie den Städten etwas zurückgeben, die Sie besuchen.«
    Ich bin so überrascht, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Yao befürchtet, dass er womöglich zu weit gegangen ist, und will schon den Becher in die Tasche stecken, als ich sage:
    »Nein! Es ist wirklich eine ausgezeichnete Idee!«
    Für die nächsten zehn Minuten strecken wir, jeder auf einer Straßenseite, den Vorübergehenden unsere Becher hin und treten dabei von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte zu vertreiben. Anfangs halte ich nur stumm den Becher hin, aber allmählich verliere ich meine Scheu und bitte um Hilfe - ein verirrter Fremder.
    Ich hatte nie Probleme damit, andere um etwas zu bitten. Ich bin in meinem Leben vielen Menschen begegnet, die sich Gedanken um andere machen, die außerordentlich großzügig sind und die glücklich sind, wenn sie von jemandem um Rat oder um Unterstützung gebeten werden. Und so soll es auch sein; es ist schön, unserem Nächsten etwas Gutes zu tun. Aber ich bin nur wenigen Menschen begegnet, die auch Hilfe annehmen können - auch wenn sie noch so freimütig und herzlich angeboten wird. Sie scheinen sich dann unterlegen zu fühlen, als wäre es unwürdig, von jemandem abhängig zu sein. Wenn jemand etwas gibt, dann scheinbar nur, weil er uns außerstande sieht, es aus eigener Kraft zu erlangen. Oder um eines Tages die Zinsen einzufordern. Manche denken sogar, und das ist das Allerschlimmste, dass sie es nicht wert seien, dass ihnen geholfen wird.
    Doch mich erinnern diese zehn Minuten auf der Straße in Jekaterinburg wieder daran, wer ich einmal war. Sie erziehen mich, befreien mich. Als ich schließlich zu Yao hinübergehe, habe ich umgerechnet elf Dollar in meinem Orangensaftbecher. Er kommt auf ungefähr den gleichen Betrag. Anders als sonst, habe ich diese Rückkehr in die Vergangenheit sehr genossen und dabei etwas empfunden, was ich lange schon nicht mehr erlebt habe. Nicht nur für mich, auch für die Stadt ein Gewinn.
    »Was machen wir jetzt mit dem Geld?«, frage ich.
    Einmal mehr ändert sich mein Eindruck von ihm. Er weiß Dinge, ich weiß andere Dinge, und es gibt keinen Grund, warum wir nicht weiterhin voneinander lernen sollten.
    »Theoretisch gehört es uns, weil es uns gegeben wurde. Aber verwahren Sie es doch separat, und geben Sie es für etwas aus, das Sie für wichtig halten.«
    Ich stecke die Münzen in meine linke Tasche und nehme mir vor, seinem Rat zu folgen. Wir gehen schnell in Richtung Hotel, denn die Zeit an der frischen Luft hat alle unsere Energiereserven vom Abendessen verbrannt.
     
    ***
     
    In der Lobby erwartet uns Hilal. Sie ist in Begleitung einer äußerst attraktiven Frau und eines Mannes in Anzug und Krawatte.
    »Hallo«, begrüße ich sie. »Ich kann gut verstehen, dass du dich entschieden hast, nach Hause zu gehen. Aber es war mir eine Freude, bis hierher mit dir zu reisen. Sind das deine Eltern?«
    Der Mann zeigt keine Regung, die schöne Frau lacht.
    »Wenn es nur so wäre! Dieses Mädchen ist ein Wunderkind! Schade, dass sie ihrem Talent nicht mehr Zeit widmen kann. Der Welt geht eine große Künstlerin verloren!«
    Hilal scheint diese Bemerkung nicht gehört zu haben. Sie sieht mich an.
    »>Hallo?< Ist das alles, was du mir zu sagen hast, nach dem, was im Zug passiert ist?«
    Die Frau schaut entsetzt. Ich stelle mir vor, was sie gerade denkt: Was ums Himmels willen ist denn im Zug passiert? Schließlich könnte ich Hilals Vater sein.
    Yao erklärt, er würde jetzt auf sein Zimmer gehen. Der Herr in Anzug und Krawatte

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