Aleph
ein wenig an Kraft. Aber heute ist etwas geschehen, denn ihr wart zwar Fremde - aber nicht für mich.«
Tatiana ist noch nicht fertig.
»Du bist viel jünger als ich, du hast nicht durchgemacht, was ich durchmachen musste. Du weißt noch nicht, wie das Leben ist, aber du hast Glück. Du bist in einen Mann verliebt, und das zu sehen lässt mich das Leben wieder lieben, und ich weiß jetzt, dass auch ich mich noch einmal werde verlieben können.«
Hilal senkt den Blick. Das hat sie nicht hören wollen. Vielleicht hat sie das Gleiche sagen wollen, doch jetzt spricht jemand anders die Worte an ihrer Stelle, hier im russischen Nowosibirsk, das genau so ist, wie wir gedacht haben - wenn auch ganz anders als die Vorstellung, die Gott von der Erde hatte.
»Was ich sagen will, ich kann mir jetzt selber verzeihen und fühle mich entsprechend leichter«, fährt Tatiana fort. »Ich weiß weder, was euch beide hierhergeführt hat, noch, warum ich euch begleiten sollte, aber ihr habt bestätigt, was ich schon immer gefühlt habe: dass die Menschen einander genau im richtigen Augenblick begegnen. Ich habe mich gerade vor mir selber gerettet.«
Tatsächlich ist ihr Gesichtsausdruck völlig verändert. Die Göttin ist zu einer Fee geworden. Sie breitet die Arme aus. Hilal geht zu ihr, und sie umarmen sich. Tatiana sieht mich an und gibt mir zu verstehen, dass ich zu ihnen kommen soll, aber ich bleibe, wo ich bin. Hilal braucht diese Umarmung mehr als ich. Sie wollte etwas Magisches tun, doch es war nichts als ein Klischee. Aber weil Tatiana imstande war, diese Energie in etwas Heiliges zu verwandeln, wurde aus dem Klischee doch noch etwas Magisches.
Die beiden halten einander weiterhin umschlungen. Ich blicke auf das gefrorene Wasser des Brunnens, das im Frühling tauen und im Herbst wieder gefrieren wird, ein ewiger Kreislauf. Genauso verhält es sich mit unseren Herzen, sie unterliegen dem Rhythmus der Zeit, doch sie hören nie für immer auf zu schlagen.
Tatiana schreibt etwas auf ein Stück Papier und gibt es zögernd Hilal.
»Auf Wiedersehen«, sagt sie dann. »Ich bin mir sicher, dass ich euch nie wiedersehen werde, aber hier ist trotzdem meine Telefonnummer. Möglicherweise ist alles, was ich eben gesagt habe, einfach nur hoffnungslos romantisch und alles wird bald wieder sein, wie es war. Aber dieser Moment hier mit euch am Brunnen war sehr wichtig für mich.«
»Auf Wiedersehen«, antwortet Hilal. »Und mach dir keine Sorgen - wenn ich den Weg zu diesem Brunnen gefunden habe, finde ich auch zurück zum Hotel.«
Sie hakt sich bei mir ein. Wir gehen durch die Kälte, und zum ersten Mal, seit wir uns kennen, spüre ich Begehren in mir. Am Eingang des Hotels verabschiede ich mich von ihr und wende mich wieder der Stadt zu. Ich muss noch etwas allein sein und nachdenken.
Der Weg des Friedens
Ich darf nicht. Ich kann nicht. Und ich muss es mir immer wieder sagen: Ich will nicht. Yao zieht sich bis auf die Unterhose aus. Obwohl er über siebzig ist, hat er einen sehnigen, muskulösen Körper. Auch ich entledige mich meiner Sachen.
Ich brauche das Training jetzt. Nicht so sehr wegen der bevorstehenden Enge im Zug, sondern weil mein Begehren für Hilal stetig wächst und langsam außer Kontrolle gerät. Besonders wenn wir getrennt sind - wenn sie in ihr Abteil gegangen ist oder ich Termine wahrnehmen muss. Ich weiß, es fehlt nur noch wenig, bis ich der Versuchung erliege. So war es damals bei unserer, wie ich meine, ersten Begegnung. Sooft wir getrennt waren, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Doch sobald sie wieder in meiner Nähe war, sichtbar, fühlbar, verschwanden die Dämonen, und ich hatte mich halbwegs unter Kontrolle.
Deshalb muss ich mich von ihr verabschieden. Hier. Bevor es zu spät ist.
Yao und ich schlüpfen in unsere Kimonos. Schweigend verlassen wir die Umkleiden des Dojos, des Übungsraums, den Yao nach drei oder vier Telefonaten ausfindig gemacht hat. Mehrere Leute trainieren bereits, doch wir finden noch einen freien Platz.
>Der Weg des Friedens ist breit und sein Ende nicht absehbar, er spiegelt das große Prinzip, das in der unsichtbaren Welt geschaffen wurde, in der sichtbaren. Der Krieger ist der Thron des Göttlichen und immer einem höheren Ziel verpflichtet<. Morihei Ueshiba hat das vor fast einem Jahrhundert gesagt, als er die Techniken des Aikido entwickelte.
Der Weg zu Hilals Körper führt durch die Tür gleich neben meinem Abteil. Ich werde anklopfen, sie wird öffnen und
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