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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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Sinn gekommen, diesbezügliche Vergleiche mit anderen Orten anzustellen. Im Augenblick stehen Hilal, ich und eine dieser sibirischen Göttinnen vor einer gigantischen Absonderlichkeit: einer riesigen Statue Lenins, des Mannes, der die Vorstellungen des Kommunismus in die Wirklichkeit umgesetzt hat. Nichts könnte weniger romantisch sein, als diesen Mann anzuschauen, der mit seinem Kinnbart in die Zukunft weist, aber außerstande ist, von seinem Sockel herunterzusteigen und die Welt zu verändern.
    Der Vergleich mit Chicago stammt übrigens von Tatiana, der »sibirischen Göttin«, einer etwa dreißigjährigen Ingenieurin. Sie hatte sich ein Buch von mir signieren lassen und war bis zur anschließenden Party geblieben. Jetzt begleitet sie uns durch die Stadt zurück zum Hotel. Wieder »festen Boden« unter den Füßen zu haben kommt mir so vor, als befände ich mich auf einem anderen Planeten, und ich habe größte Mühe, mich daran zu gewöhnen, dass der Boden unter mir nicht mehr die ganze Zeit schwankt.
    »Lasst uns in eine Bar gehen, etwas trinken und tanzen. Wir müssen uns so viel wie möglich bewegen.«
    »Aber wir sind müde«, wendet Hilal ein.
    In solchen Momenten nutze ich meine Fähigkeit, mich in eine Frau einzufühlen, und lese zwischen den Zeilen: >Du willst mit ihr zusammen sein.<
    »Geh doch zurück ins Hotel, wenn du müde bist. Ich bleibe bei Tatiana.«
    Hilal wechselt sofort die Taktik.
    »Ich möchte dir etwas zeigen.«
    »Gern. Aber Tatiana kann ruhig dableiben. Du und ich kennen uns ja auch erst seit zehn Tagen, nicht wahr?«
    Das zerstört den Eindruck, den Hilal gern erwecken würde, nämlich dass sie mit mir zusammen sei. Tatiana zeigt sich begeistert - nicht unbedingt meinetwegen, sondern aus einer natürlichen, typisch weiblichen Rivalität heraus. Es sei ihr ein Vergnügen, mir das Nachtleben des »Chicagos von Sibirien« zu zeigen.
    Lenin betrachtet uns ungerührt von seinem Sockel herab, offensichtlich ist er so etwas gewohnt. Hätte er sich, statt das Paradies für das Proletariat zu schaffen, für eine Diktatur der Liebe entschieden, wäre alles besser ausgegangen.
    »Also los! Kommt mit!«
    Noch ehe ich reagieren kann, läuft Hilal los. Sie will den Spieß umkehren, und Tatiana fällt darauf rein. Im Laufschritt gehen wir hinter Hilal her den riesigen Boulevard hinunter, der zur Brücke über den Ob führt.
    »Kennt ihr die Stadt denn schon?«, fragt die Göttin überrascht.
    »Das hängt davon ab, was du unter >kennen< verstehst. Wir kennen immer alles. Wenn ich Geige spiele, begreife ich die Existenz eines…«
    Sie sucht nach Worten. Schließlich sagt sie etwas, das nur ich verstehe, Tatiana aber vom Gespräch ausschließen soll.
    »…eines riesigen, mächtigen >Informationsfeldes< um mich herum. Es ist nichts, das ich kontrollieren kann, das jedoch mich kontrolliert und meine Finger die richtigen Akkorde spielen lässt. Ich muss die Stadt gar nicht kennen, ich muss nur zulassen, dass sie mich führt, wohin sie will.«
    Hilal geht immer schneller. Zu meiner Überraschung hat Tatiana genau verstanden, was die andere sagen wollte.
    »Mir geht es so beim Malen«, offenbart sie. »Zwar bin ich von Beruf Ingenieurin. Aber wenn ich vor der leeren Leinwand stehe, ist jeder Pinselstrich für mich wie eine visuelle Meditation. Wie eine Reise hin zu einem Glückszustand, den ich bei meiner Arbeit nicht finde. Etwas, das mir hoffentlich immer erhalten bleiben wird.«
    Lenin hat bestimmt schon off ähnliche Szenen mitbekommen. Anfangs stehen sich zwei Mächte gegenüber, weil es um eine dritte geht, die besiegt oder erhalten werden muss. Kurz darauf verbünden sich die beiden Mächte, die eben noch Rivalen waren, und die dritte wird links liegengelassen. Ich wurde zum Begleiter degradiert, während sich die beiden jungen Frauen wie uralte Freundinnen angeregt auf Russisch unterhalten und mich fast vergessen haben. Es ist auch in Nowosibirsk kalt - wie vermutlich das ganze Jahr in Sibirien -, doch der Spaziergang tut mir gut, hebt meine Stimmung, jeder Kilometer, den wir zurücklegen, bringt mich meinem Reich wieder näher. In Tunesien hatte ich einen Augenblick geglaubt, dies würde nie geschehen, aber meine Frau hat recht behalten: Allein und ganz auf mich gestellt, bin ich zwar verletzlicher, aber auch offener.
    Hinter den beiden Frauen herzulaufen erschöpft mich. Morgen werde ich Yao vorschlagen, gemeinsam etwas Aikido zu trainieren. Mein Geist hat zuletzt mehr gearbeitet als mein

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