Alera 01 - Geliebter Feind
sein.«
Semari blickte die Straße hinunter, wo jemand ihren Namen rief.
»Ich komme schon, Mutter!«, antwortete sie und fuhr dann rasch fort: »Das Problem ist nur, dass meine Eltern nicht so recht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Meine Mutter ist es nicht gewohnt, derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und sie kann nur wenige seiner Fragen überhaupt beantworten. Mein Vater ist der Hausherr und verdient es, als solcherbehandelt zu werden, gleichzeitig möchte er natürlich keinen Streit mit Narian – oder Kyenn. Sein ältester Sohn ist zurück und Papa möchte ihn vor allem erst einmal kennenlernen. Kyenns Haltung macht es uns allen schwer, vor allem aber meinem Vater, denn er ist es nicht gewöhnt, an zweiter Stelle zu stehen.«
Niemand in Hytanica hätte damit umgehen können. Ich vermochte mir nicht einmal vorzustellen, dass jemand Frauen mehr Respekt zollte als Männern oder seinen Vater so behandelte, als wäre er seiner Mutter untergeordnet. Beides wäre in Hytanica absolut inakzeptabel, und so fragte ich mich, wie Narian sich je in unsere Gesellschaft einfügen sollte.
»Ich komme schon, Mutter!«, wiederholte Semari, als ihr Name erneut über den Lärm der Menschenmenge an unsere Ohren drang. »Ich muss gehen, aber vielleicht könnt ihr mich auf unserem Landsitz besuchen. Mit etwas Glück wird auch Kyenn dort sein.« Sie umarmte uns nacheinander und lief dann rasch zu ihrer Familie zurück.
»Sie hat so ein unglaubliches Glück«, meinte Miranna schmollend und sah ihrer Freundin nach. »Wir hatten geplant, dass wir ihn treffen und über Cokyri ausfragen würden. Und jetzt wohnt er praktisch in ihrem Haus.«
»Manchmal ist das Leben eben ungerecht, selbst gegenüber Prinzessinnen«, neckte ich sie, obwohl auch ich Neid verspürte und mir nicht vorstellen konnte, dass man uns erlauben würde, Semari ausgerechnet dann zu besuchen, wenn Narian zugegen war. Mein Vater würde darauf beharren, dem Baron und seiner Familie Ruhe zu gönnen, damit Koranis und Alantonya sich mit ihrem Sohn wieder vertraut machen und die übrigen Kinder ihren Bruder kennenlernen könnten.
»Wir sollten langsam in den Palast zurückkehren«,meinte ich mit Blick zum Himmel, wo sich ein abendlicher Regenschauer zusammenzubrauen schien. Wir spazierten mit Tadark und Halias im Schlepptau über die Kopfsteinpflastergassen zurück, als mir ein anderes Thema in den Sinn kam.
»Vater möchte, dass ich mich wieder mit Steldor treffe«, sagte ich gequält.
»Tatsächlich? Wann denn?«
»Nächste Woche. Ich musste dich leider ins Spiel bringen, um zu verhindern, allein mit ihm dazustehen. Vater wird noch einen Begleiter für dich bestimmen, und dann machen wir zu viert ein Picknick.«
»Ach, das klingt doch großartig! Wir waren schon eine Ewigkeit nicht mehr außerhalb der Stadt.«
»Dann bist du mir also nicht böse?«
»Aber nicht im Geringsten! Ich freue mich eher auf Steldors Gesellschaft. Und ich kann dir sogar nützen, indem ich ein wenig von seiner Aufmerksamkeit auf mich lenke.«
Ich begriff zwar nicht, wie Miranna sich darauf freuen konnte, Zeit mit Steldor zu verbringen, aber ich hatte auch keine Lust, mit ihr darüber zu streiten. Je mehr Ablenkung geboten war, desto weniger Gelegenheit würde der Hauptmannssohn für seine Prahlereien haben.
12. DAS PICKNICK
Was ich mir als schlichtes Picknick vorgestellt hatte, entpuppte sich rasch als ein Ereignis, das fast so viel Planung erforderte wie ein großer Ball. Das erste Problem war die geeignete Begleitung für Miranna. Mein Vater kannte zwar die meisten jungen Männer der hytanischen Oberschicht gut, aber es fiel ihm schwer, darunter einen auszuwählen, dem er zutraute, sich verantwortungsvoll um seine jüngste Tochter zu kümmern.
Die nächste Frage, die den König beschäftigte, war unser Transportmittel und das Ziel unseres Ausflugs. Ich hatte angenommen, wir würden uns spontan für ein hübsches Plätzchen entscheiden, doch er bestand darauf, zu jedem Zeitpunkt genau zu wissen, wo wir uns gerade aufhielten. Langsam wurde mir klar, dass dieser Wunsch nach Kontrolle weniger mit väterlicher Fürsorge und mehr mit seiner Furcht vor möglichen Gefährdungen durch Cokyrier zu tun hatte.
Und was war mit unseren Leibwächtern? Sollten beide uns begleiten? Mein Vater entschied, dass nur einer nötig wäre, nachdem wir uns ja in Steldors Obhut befänden. Ich vermutete allerdings, dass Cannan unser Ausflugsziel ohnehin überwachen lassen würde. Tadark,
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