Alera 01 - Geliebter Feind
ein Vorbild zu sein«, sagte sie und presste ein Kissen an ihre Brust. »Es war zwar kein angenehmes Gespräch, aber wenigstens hat er mich nicht angebrüllt. Wie ist es dir ergangen?«
»Allzu laut und zornig ist er nicht geworden, aber das wäre vielleicht sogar leichter zu ertragen gewesen. Er hat mir meine Unzulänglichkeiten als Tochter vorgehalten.« Ich zögerte kurz, dann sprudelte es aus mir heraus: »Er hat gesagt, dass er fürchtet, ich würde eine schlechte Königin abgeben. Ich sei zu alt für kindische Spielchen, und er zweifle an meinem Urteilsvermögen.«
Tränen traten mir in die Augen, aber ich war entschlossen, nicht zu weinen, denn das hätte bedeutet, dass seine Einschätzung stimmte.
»Ach, er weiß ja nicht, wovon er redet.« Mirannazwang sich zu einem Lächeln und nahm meine Hände in ihre. »Du wirst eine phantastische Königin sein. Und er sollte sein Urteil nicht auf einen einzigen Vorfall stützen.«
»Vater regiert das Königreich, Mira. Er weiß besser als jeder andere, welche Fähigkeiten eine Königin besitzen muss.«
»Was wir gemacht haben, war zwar sehr unklug, aber Vater übertreibt mit seinen Vorwürfen. Er hat doch nie an deiner Eignung als Nachfolgerin gezweifelt, und ich bin mir sicher, dass er das insgeheim auch jetzt nicht tut.«
»Er hat auch gesagt, wenn ich nicht bald einen anderen Mann mit diesen Qualitäten finde, wird er mir befehlen, Steldor zu heiraten.« Ich entzog Miranna meine Hände und begann mit der Spitze an ihrer Bettüberdecke zu spielen.
»Dir befehlen?«, echote Miranna.
»Ja! Und was soll ich nur machen? Ich kann Steldor nicht heiraten!«
»Das klingt mir aber gar nicht nach Vater«, sagte meine Schwester bestürzt. Einen Moment lang musterte sie mich mitleidig. »Er steht einfach … im Moment so unter Stress. Ich bin mir sicher, er wird seinen Standpunkt noch einmal überdenken … und auch seinen Humor wiederfinden.«
Ihr Versuch, mich zu beruhigen, misslang, denn sie klang einfach nicht überzeugend.
»Und wenn nicht? Was soll ich dann machen? Ich hatte gehofft, aus Liebe zu heiraten. Einen klugen und einfühlsamen Mann, jemand mit den Fähigkeiten, der bedeutendste König in der Geschichte Hytanicas zu werden! Wie viel Zeit mag Vater mir noch zubilligen, bis er mich zwingt, diesen Mann zu heiraten, den ich verachte!«
»Reg dich nicht auf, Alera!«, beharrte Miranna. »Ich teile deine negative Meinung von Steldor zwar nicht, aber ich bin auch der Ansicht, dass du aus Liebe heiraten solltest. Gib Vater einfach ein wenig Zeit, und er wird sich wieder beruhigen.«
Ein paar Minuten lang saßen wir in niedergeschlagenes Schweigen gehüllt, doch dann sprang meine Schwester auf die Füße.
»Ein Tapetenwechsel würde uns beiden guttun. Warum machen wir nicht einen kleinen Ausflug? Lassen wir den Palast und unsere Sorgen einfach hinter uns.«
»Eine Ablenkung könnte sicher nicht schaden«, stimmte ich zaghaft zu.
Sie zwirbelte eine Haarsträhne und schien zu überlegen, dann trat ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.
»Ich glaube, heute ist Markttag. Lass uns ein wenig frische Luft schnappen und uns umsehen.« Sie ergriff meine Hand und zog mich vom Bett hoch. »Außerdem können wir da gleich nach anderen Freiern Ausschau halten!«
Ich musste über ihren Vorschlag lächeln, auch wenn ich dem Dilemma, in dem ich mich befand, eigentlich nichts Komisches abgewinnen konnte.
Zwei Stunden später begleiteten uns Tadark und Halias aus dem Palast und durch den mittleren Hof hinaus in die Stadt. Ein kurzes Stück weit folgten wir der fast zwölf Meter breiten Hauptstraße, die die Stadt in zwei Hälften teilte, dann bogen wir nach rechts ins Marktviertel ab. Dort gingen die dicht beieinanderliegenden Ladenfronten der Geschäfte auf die schmalen Gassen hinaus. Wir spazierten an den Auslagen der Bäcker und Gewürzhändler, der Apotheker und Juweliere vorbei. Die Waren befanden sich auf Auslegebrettern, die am Endedes Tages leer geräumt und als Fensterläden hochgeklappt wurden. In einer der vielen Seitenstraßen waren die Zunftschilder der Schuster, Sattler, Zaumzeugmacher und Gerber zu sehen. In einer anderen boten Fischhändler, Metzger und Wachszieher ihre Produkte feil.
Hinter den letzten Geschäften endete das Kopfsteinpflaster auf einem großen grasbewachsenen Hügel, von dem aus man auf das Trainingsgelände der hytanischen Militärakademie hinunterblickte. Hier hatte man vorübergehend Zelte und Buden errichtet, in denen diverse
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