Alera 01 - Geliebter Feind
musste feststellen, dass der Sommer bereits dem Herbst Platz machte. Die Blumen welkten bereits dahin, und das Laub an den Bäumen war stellenweise schon bunt gefärbt. Kaum hatte ich mich gesetzt, nahm die dunkeläugige Reveina, wie immer die Wortführerin, auf meiner linken und die mannstolle Kalem auf meiner rechten Seite Platz.
»Also, jetzt musst du uns alles erzählen!«, fing Reveina an, warf ihre braunen Locken zurück und beugte sich zu mir. »Was genau ist zwischen Lord Steldor und diesem Cokyrier vorgefallen?«
»Ja, wir waren zwar auch im Ballsaal, haben aber von der Auseinandersetzung nichts mitbekommen. Man hört so viele einander widersprechende Versionen, dass wir jetzt von dir die Wahrheit hören wollen«, ergänzte Kalem und ihre von kohlschwarzem Haar umrahmten grauen Augen glitzerten.
»Sein Name lautet Lord Narian«, sagte ich kurz angebunden. »Und er ist Hytanier, nicht Cokyrier.«
Aber weder der Ton noch der Inhalt meiner Worte vermochte ihre Sensationslust zu dämpfen.
»Hat Steldor ihn geschlagen? Oder hat er Steldor geschlagen?« Reveina blieb beharrlich. »Wir haben beides schon gehört und tendieren zu Ersterem, wobei Letzteres natürlich …«
»… der größere Skandal wäre?«, vollendete ich den Satz.
»Ja, natürlich«, stimmte Kalem lachend zu.
Ich schaute konzentriert geradeaus und hoffte, die Darbietungen würden rasch beginnen. Da Miranna, die als Erste auftrat, noch nicht bereit war, bemühte ich mich, die Spekulationen so taktvoll wie möglich zu beenden.
»Es gab überhaupt keine Tätlichkeiten. Steldor hatte nur mehr Alkohol konsumiert, als ihm gutgetan hätte, und ist ein wenig eifersüchtig geworden. Es gefiel ihm nicht, dass ich mich mit Narian unterhielt, obwohl eigentlich zu erwarten war, dass ich mit dem Ehrengast sprechen würde. Und auch wenn es mir leidtut, euch zu enttäuschen, niemand hat irgendjemand geschlagen.«
Enttäuschung zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab und sie zogen Schmollmünder, als hätten sie von mir zu Recht eine gute Klatschgeschichte erwartet. Bevor sie noch etwas dazu sagen konnten, erklangen die ersten Harfentöne und Mirannas Solo rettete mich.
Das Konzert dauerte zwei Stunden und abwechselnd traten Sängerinnen und Musikerinnen auf. Unmittelbar vor dem letzten Gesangsstück entschuldigte ich mich und verließ den Raum, um keine weiteren Nachforschungen erdulden zu müssen. Ich wusste zwar, dass meine Mutter dieses Verhalten als unhöflich missbilligte und mich später dafür tadeln würde, aber diesen Preis war ich gerne zu zahlen bereit.
17. MISSETATEN UND ERFOLGREICHE MISSIONEN
Als Miranna und ich uns zum nächsten Besuch auf Koranis’ Landgut begaben, war bereits Erntezeit. Ab Mitte September und den ganzen Oktober hindurch wurde das Getreide, Weizen, Gerste, Roggen und Hafer, geerntet und eingelagert, man las die Trauben für den Wein, sammelte Honig und pflückte das Obst, unter anderem auch die Äpfel im königlichen Obstgarten. Es war die schönste Zeit des Jahres, die Ende Oktober in einem Fest mit Tanz, Turnier und Markt gipfelte.
Während wir mit unserer Kutsche über Land fuhren, überlegte ich, was Narian wohl von der bevorstehenden Festlichkeit hielt. Nach allem, was Semari uns bisher erzählt hatte, bezweifelte ich, dass er sich besonders dafür begeistern würde. Schließlich hatte ihn bislang fast alles enttäuscht, was er in Hytanica erlebt hatte, folglich würde er wohl auch dem Erntefest skeptisch begegnen. Trotzdem hoffte ich, dass seine Teilnahme am aufregendsten Fest des Jahres sein Bild von Hytanica zumindest ein wenig verbessern würde.
Nach unserer Ankunft plauderten Miranna und ich zunächst mit Koranis und Alantonya, bis die aus dem Haus stürmende Semari uns mit ihrer überschwänglichen Begrüßung unterbrach. Alantonya nahm das Erscheinen ihrer Tochter zum Anlass, sich selbst wieder zurückzuziehen, schlug uns aber zuvor noch einen Spaziergang vor. Allerdings ermahnte sie uns, vom Fluss fernzubleiben. Koranis schickte sich ebenfalls an zu gehen, offenbar war ihm das Geschnatter der jungenMädchen zu viel. Tadark hielt ihn auf, als er sich auf den Weg in Richtung der Stallungen machte. Neugierig, was mein Leibwächter mit dem Baron zu reden haben konnte, trat ich von meiner Schwester und ihrer Freundin weg und spitzte die Ohren.
»Ich glaube, der gehört Euch«, sagte Tadark in wichtigtuerischem Ton und hielt ihm den Dolch hin, den Narian nach meinem Sturz ins Wasser gezückt hatte.
»Ja,
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