Alera 02 - Zeit der Rache
Liebe sich in Form von Wut äußern.«
Etwas an den Worten des Hauptmannes ließ mich aufhorchen, und mir schien, er würde nicht nur von Steldor sprechen, sondern auch von sich selbst. Er hatte mir einst erzählt, dass er in seiner eigenen Jugend große Ähnlichkeit mit Steldor gehabt hatte. Also versuchte ich, mir Cannan so jähzornig, mutwillig und egozentrisch wie meinen Ehemann vorzustellen, doch das erwies sich als ebenso diffizil wie der Versuch, mir Cannans Eigenschaften an Steldor auszumalen.
»Ich erzähle Euch das, damit Ihr ihn besser verstehen könnt, nicht um sein Verhalten zu entschuldigen. Denn auch wenn er Euch verletzt haben mag, so bin ich mir doch sicher, dass es nur durch Worte und nicht durch seine Hand geschehen ist.«
Ich nickte. Cannan kannte seinen Sohn gut. Erleichterung erfasste mich, doch da war noch eine letzte Frage, die ich dem Hauptmann zu stellen wagte, weil er Galen den Vater ersetzt hatte. Nachdem ich wusste, wie nah sich die beiden jungen Männer standen, fürchtete ich, die gerade erst aufblühende Beziehung zwischen Galen und mir irreparabel beschädigt zu haben.
»Und was ist mit Galen? Steldor hat Dinge zu mir gesagt, die er hoffentlich nicht so gemeint hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Galen nicht ebenfalls in den Sinn gekommen sind.«
»Im Gegensatz zur landläufigen Meinung sind Galen und Steldor keine identischen Persönlichkeiten«, sagte Cannan und hob dabei eine Augenbraue. »Wenn Steldor in Rage gerät, neigt er dazu, stets vom Schlimmsten auszugehen. Galen besitzt ein anderes Temperament und unterstellt den Menschen stets die besten Absichten.«
Ich schenkte meinem Schwiegervater ein Lächeln.
»Danke«, sagte ich und empfand in der Tat eine größere Dankbarkeit als ich in Worte zu fassen vermochte, weil er sich die Mühe gemacht hatte, zu mir zu kommen.
Er erhob sich und nickte mir nur leicht zu.
»Nun will ich Euch nicht länger von Eurem Tagwerk abhalten.« Nachdem er schon ein paar Schritte auf die Tür zugegangen war, drehte er sich noch einmal um und teilte mir eine letzte aufmunternde Überlegung mit. »Ich setze großes Vertrauen in Euch, Alera. Ihr werdet meinem Sohn guttun. Wenn Ihr ihm wie bereits in der Vergangenheit verweigert, dass alles nach seinem Kopf geht, wird er am Ende vielleicht sogar ein wenig Demut lernen.«
Bevor ich noch darauf antworten konnte, war Cannan bereits auf den Flur verschwunden und ließ mich verblüfft über seine letzte Bemerkung zurück.
Eilig aß ich mein Mittagessen, eine Gemüsesuppe mit Brot, in meinen Gemächern, nachdem ich es abgelehnt hatte, mich mit meiner Familie in unserem Speisezimmer im zweiten Stock zu Tisch zu setzen. Denn auch wenn sich meine Stimmung durch die Unterhaltung mit dem Hauptmann spürbar gebessert hatte, fühlte ich mich noch nicht bereit, meinem Vater, Steldor oder Galen gegenüberzutreten. Mein Salon war mir zudem eine willkommene Zuflucht vor bohrenden Blicken, weil im ganzen Palast Gerüchte kursierten, wonach der König und die Königin nicht miteinander sprächen.
Nachdem ich gegessen hatte, begab ich mich zurück in mein Studierzimmer, wo ich den Nachmittag mit Arbeit zuzubringen gedachte. Leise lief ich den Flur entlang in Richtung Wendeltreppe, denn ich wollte möglichst keine Aufmerksamkeit erregen. Doch schon hatte eine Palastwache mich entdeckt.
»Eure Hoheit, König Adrik wünscht Euch zu sprechen. Er lässt Euch bitten, ihn in seinem Arbeitszimmer im dritten Stock aufzusuchen.«
Meine Zuversicht, die Cannan mir zurückgegeben hatte, schwand dahin. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass mein Vater mich um eine Unterredung bitten würde, doch was mich in deren Verlauf erwartete, konnte ich mir nicht recht vorstellen. Ich brauchte mehr Zeit, um mich zu sammeln und mir irgendwelche Erklärungen zurechtzulegen.
»Lasst meinen Vater doch bitte wissen, dass ich für den Rest des Tages anderweitig beschäftigt sein werde und ihn morgen früh aufsuchen werde.«
Der Wachmann nickte und entfernte sich, um meine Nachricht zu überbringen. Da ich wusste, dass mein Vater nicht erbaut sein und womöglich beschließen würde, mich dennoch zur Rede zu stellen, eilte ich zurück in meine Gemächer. Dabei reifte ein Fluchtplan in meinem Kopf.
Ich wandte mich an die erste Palastwache, die mir begegnete, und wies den Mann an, Lanek, dem Privatsekretär des Königs, mitzuteilen, dass ich unter Kopfschmerzen litte und daher all meine Vereinbarungen für den Nachmittag absagen
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