Alera 02 - Zeit der Rache
den Fluss überquerten. Davon ausgehend ist es wahrscheinlich, dass sie sich längst in die Berge abgesetzt haben.
Der Zweck dieser Zusammenkunft ist, über unser weiteres Vorgehen zu entscheiden. Ich denke, dass wir dafür dreierlei Optionen haben. Nummer eins: Wir schicken Männer hinter ihr her. Das würde bedeuten, nach Cokyri einzudringen, und wäre ein ziemlich komplexes Unterfangen. Londons Erfahrung wäre dafür unersetzlich, doch gegenwärtig ist er als Kundschafter unterwegs.
Variante Nummer zwei: Wir warten, bis wir etwas von den Cokyriern hören. Der Feind verfolgte eine Absicht, als er unsere Prinzessin raubte, und ich glaube, dass er versuchen wird, mit uns über ihre Rückgabe zu verhandeln. Dafür müssten wir uns ernsthaft überlegen, zu welchen Konzessionen im Austausch für ihr Leben wir bereit wären.«
Mein Vater ließ einen kurzen, herzzerreißenden Laut vernehmen und schlug sich eine Hand vor den Mund. Offenbar ertrug er den Gedanken an den Tod seiner jüngeren Tochter kaum. Cannan warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Doch das war keine mitleidige Geste, sondern nur eine Reaktion auf das Geräusch, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Der Hauptmann verhielt sich im Moment genau so, wie er mir immer erschienen war: als ein Mann von unberechenbarer Kraft, der stets handelte, anstatt sich zu sorgen oder zu trauern.
»Unsere dritte und letzte Option wäre meiner Ansicht nach, Verhandlungen mit Cokyri zu initiieren. Das würde uns den Vorteil verschaffen, aus der Offensive heraus zu agieren, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Cokyri berüchtigt für die Behandlung unserer Abgesandten ist. Daher favorisiere ich persönlich diese Variante nicht.«
Jeder am Tisch kannte die Geschichte des Krieges gegen Cokyri: Vor über einem Jahrhundert hatte Hytanica seinen Kronprinzen ausgesandt, um der cokyrischen Kaiserin ein Handelsabkommen vorzuschlagen. Sie hatte seine Unkenntnis ihrer Kultur als Beleidigung aufgefasst. Dafür hatte sie ihn hinrichten lassen, und als die Nachricht davon dem hytanischen König zu Ohren kam, hatte dieser einen Krieg entfacht, der fast hundert Jahre lang gedauert hatte. Daher war seither niemand darauf erpicht, eine bedeutende Persönlichkeit ins Lager des Feindes zu schicken.
»Ich stelle dieses Thema zur Diskussion«, schloss Cannan.
»Wir sollten ihr sofort folgen«, ereiferte sich Halias als Erster, und mein Vater nickte zustimmend. »Das hätten wir schon letzte Nacht tun sollen – schließlich ist sie in Gefahr und verlässt sich darauf, dass wir sie retten.«
»Das wäre doch Selbstmord«, erwiderte Destari müde, und ich hatte den Eindruck, er hätte schon die ganze Nacht hindurch so argumentiert. »Wir brauchen Londons Ortskenntnis auf cokyrischem Gebiet, um einen geeigneten Plan zu fassen. Daher sage ich, wir müssen zumindest warten, bis London zurück ist.«
»Aber wer weiß, wann das sein wird?«, brummte mein Vater und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Aus seiner Stimme war Panik herauszuhören, als er fortfuhr: »Er könnte noch wochenlang ausbleiben, und bis dahin könnte Miranna … Sie könnte …«
»Tot sein«, beendete Halias in harschem Ton seinen Satz.
»Dann lasst uns jemand ausschicken, London zu suchen«, schlug Steldor vor und warf Halias für seine Unverblümtheit einen finsteren Blick zu. »Ich stimme Destari darin zu, dass es katastrophal wäre, blindlings in Cokyri einzufallen, aber wir brauchen auch nicht untätig darauf zu warten, dass London von sich aus zurückkehrt. Vielleicht könnte Cargon einige Kundschafter ins Vorgebirge schicken, um ihn dort aufzuspüren.«
»Das werde ich sogleich tun«, sagte Major Cargon. Steldor und Cannan nickten zustimmend. »Ich werde meine Männer auch die Festung der Cokyrier ausspähen lassen, damit wir die günstigsten Stellen für ein mögliches Eindringen kennen.«
»Dann sind wir uns in diesem Punkt einig?«, fragte Cannan und sah nacheinander alle am Tisch an. »Wir werden Kundschafter entsenden, die London suchen sollen, aber bis und solange er nicht gefunden ist, werden wir keinen Befreiungsversuch unternehmen. Für die Prinzessin wäre es ebenso gefährlich, wenn wir mit einem nicht ausgereiften Plan losschlagen, als wenn wir warten. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass sie nicht in akuter Lebensgefahr schwebt. Und falls Cokyri ein Angebot machen sollte, bevor wir einen konkreten Befreiungsplan haben, dann werden wir die Lage neu bewerten.«
Bis auf zwei Anwesende
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