Alera 02 - Zeit der Rache
sein zu müssen.
Sehr viel später drangen gedämpfte Stimmen aus dem Salon an mein Ohr, und ich versuchte, mich zu konzentrieren, um einzelne Worte zu verstehen, doch das gelang mir nicht. Ich hörte, wie sich die Tür zum Salon öffnete und schloss, danach näherten sich Schritte meinem Schlafgemach.
»Alera«, hörte ich Steldor leise rufen und vorsichtig anklopfen.
Ich warf die Decken zurück, weil ich ihn unbedingt sehen wollte, und beeilte mich aus dem Bett, um ihm die Tür zu öffnen. Seine Augen glitten über meine Gestalt und das Zimmer hinter mir. Er schien meinen derangierten Zustand, die zugezogenen Vorhänge und das ungemachte Bett zu bemerken.
»Hast du den ganzen Tag über geschlafen?«, fragte er.
»Ich habe auch ein bisschen geschlafen«, sagte ich schüchtern. »Die meiste Zeit habe ich aber nur geruht.«
Ein sorgenvoller Schatten fiel über sein Gesicht, aber er stellte mir keine weiteren Fragen.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. Da sah ich, dass Destari den Salon verlassen hatte, vermutlich hatte er sich auf den Gang zu Casimir gesellt.
Wie ein verängstigtes Tier, das man aus seinem Bau gezwungen hat, ging ich zum Sofa und setzte mich. Dann griff ich zögernd nach dem zugedeckten Korb, den Steldor auf dem Tisch davor abgestellt hatte. Er sah mir neben dem Kamin stehend zu, wie ich langsam den Deckel abnahm.
Aus der Öffnung schob ein winziges grau-schwarz geflecktes Kätzchen seinen Kopf und miaute mich mit neugierig aufgerissenen grauen Augen überraschend laut an. Während es versuchte, aus dem Korb zu entkommen, entdeckte ich, dass alle vier Pfoten und sein Bauch weiß waren. Es dauerte nicht lange, bis es ihm gelungen war, eine Pfote über den Rand des Korbes zu schieben, dann purzelte das kleine Fellknäuel unbeholfen auf meinen Schoß, wo es erneut miaute und unsicher aufstand. Als es einen Buckel machte, sah man seinen kugelrunden kleinen Bauch umso besser.
Ich nahm das vorwitzige Kätzchen auf den Arm und drückte es an meinen Hals, bis es sich freikämpfte und auf meine Schulter kletterte, wo es mutig herumbalancierte. Es vergrub sein Köpfchen in meinem langen Haar und schlug mit den winzigen Pfötchen danach. Offenbar schien es meine Haare für eine seltsame Beute zu halten. Da trat Steldor zu mir und hob das flauschige Baby hoch, das fast genau in seine Handfläche passte.
»Es wird in nächster Zeit chaotisch zugehen«, sagte er und kraulte das Tierchen hinter den Ohren, bevor er es auf meine Knie setzte. »Da möchte ich nicht, dass du zu viel Zeit allein verbringst. Deshalb dachte ich, dass ein Gefährte, und sei er auch noch so klein, eine gute Ablenkung sein könnte.«
»Danke«, sagte ich nur, sah ihn bewundernd an, denn mir wurde klar, dass er sich trotz all der wichtigen strategischen Überlegungen die Zeit genommen hatte, an mich zu denken. Er wollte nicht, dass ich mich vernachlässigt fühlte, und versuchte, mir Sicherheit zu geben. Auch wenn er es mir gegenüber noch nie gesagt hatte, konnte ich an seinem Verhalten ablesen, dass er mich liebte.
Die nächsten paar Tage verbrachte ich mit dem neuen Haustier in meinen Gemächern. Ich wollte nicht hinaus, denn meine bis dato unstillbare Neugier auf die Palastpolitik schien mit meiner Schwester verschwunden zu sein. Meine Mahlzeiten nahm ich im Salon ein, denn ich wusste, dass Miranna mir im Speisezimmer der Familie noch mehr fehlen würde. Ich hielt mich auch von den Gängen fern, denn es gab keine Chance, ihr dort zufällig zu begegnen. Irgendwie konnte ich leichter mit meinen Schuldgefühlen und meiner Trauer umgehen, wenn ich nicht andauernd an ihre Abwesenheit erinnert wurde.
Steldor kam und ging, aber ich wusste von den Gesprächsfetzen, die ich von seinen Unterhaltungen mit Destari mitbekam, dass meine selbst auferlegte Isolation ihn bekümmerte. Ein wenig beruhigte ihn wohl die Tatsache, dass mein Leibwächter mir im Salon Gesellschaft leistete, anstatt auf dem Gang Wache zu stehen.
Eine Woche nach Mirannas Entführung suchte mich nachmittags meine Mutter auf. Die dunkeln Ringe unter ihren blauen Augen ließen mich vermuten, dass sie seit Beginn dieses Unheils kaum geschlafen hatte. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob auch an mir die gleichen Zeichen der Erschöpfung sichtbar waren, da ich meinem Äußeren in den vergangenen Tagen kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sorge und Trauer schienen die einzigen Gefühle zu sein, zu denen ich noch fähig war.
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