Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
schüttelte heftig den Kopf. »Wie soll ich ihn hinaufziehen? Oder dich danach?«
»Vielleicht sollten wir ihn einfach ertrinken lassen«, warf ich ein.
»Danke«, entgegnete sie verbittert. Und war, bevor ich merkte, was sie vorhatte, verschwunden. Sie sprang ins Wasser, ging unter, tauchte hustend und würgend wieder auf, sah sich um und ging wieder unter.
Der Mann aus dem Bus tauchte unmittelbar darauf von allein auf. Quinda griff nach ihm, und das Meer schlug über ihren Köpfen zusammen. Doch als ich sie wieder sah, hatte sie ihn.
Ich hatte das Seil eingeholt und ließ es zu ihr hinabfallen. Sie schlang es schnell unter seinen Armen hindurch und gab mir ein Zeichen.
Ich zog.
Er war verdammt schwer. Viel schwerer als Chase.
Ich konnte mich nirgendwo mit den Füßen abstützen.
Als ich versuchte, das Tau einzuholen, glitt ich einfach über die Tragfläche.
Ich stieg in die Kabine zurück und versuchte es von dort aus. Doch es klemmte irgendwo fest. Und er war einfach zu schwer.
»Hoch«, rief ich.
»Ich sehe Ihr Problem.«
»Können Ihre Passagiere die Tür noch mal öffnen?«
»Sie sind schon dabei.«
»Quinda«, rief ich. »Halte durch. Halte dich an ihm fest. Wir ziehen euch gemeinsam hoch.« Ich band das Tau um den Sitz.
Sie schüttelte den Kopf. Ich konnte sie nicht hören, doch sie deutete auf das Seil. Es war nicht stark genug, um beide zu tragen. Um die Geste zu verdeutlichen, stieß sie sich von ihm ab und rief noch etwas. Über dem Tosen der See und des Windes verstand ich: »Komm und hol mich.«
Ich taumelte ins Cockpit und zog den Gleiter höher.
Die Hoch drehte den Bus, um mir das Manöver zu erleichtern. Ein großer, warmer Kreis aus gelbem Licht öffnete sich in ihrer Hülle. Hinter mir gab Chase ein Geräusch von sich, eher ein Wimmern als ein Stöhnen.
Ich war nun über dem Bus und senkte den Gleiter wieder. »Sagen Sie mir, wann«, rief ich. »Ich bin auf Vermutungen angewiesen.«
»Alles klar«, sagte sie. »Sie machen das gut. Sehen Sie auf Ihren Monitor: Sie müßten jetzt ein Bild haben, aber halten Sie einfach den Kurs, noch ein paar Meter … ja, weiter so …«
Auf dem Bildschirm sah ich an der Hülle des Busses entlang. Mehrere Händepaare hielten den Rahmen der geöffneten Tür umklammert. »Etwas tiefer«, sagte die Hoch.
Das Seil spannte sich stramm durch meine Tür und über die Verstrebung der Tragfläche.
Arme griffen aus dem Bus, packten den Mann an den Beinen, als sie ihn erreichen konnten, und zogen ihn hinein. »Alles klar«, sagte die Hoch. »Wir haben ihn.«
»Ich brauche das Seil.«
»Sie haben es.«
Ich sprang zurück. »Halten Sie die Tür geöffnet«, sagte ich. »Es ist noch jemand im Wasser. Wir machen es auf dieselbe Art.«
»Alles klar«, sagte die Hoch. Und dann, todernst: »Schnell.«
Schnell.
Als ich auf der Tragfläche zurück kam, war sie verschwunden. Ich stand da, zog das Tau durch das Wasser, rief ihren Namen, wußte nicht einmal genau, wo sie gewesen war, bis die Gleiter der Patrouille kamen und über uns kreisten.
Sie suchten bis zur Dämmerung. Doch es hatte niemals die geringste Hoffnung bestanden.
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Kein Grab zu haben ist nicht weiter von Belang.
– Virgil
Aeneis, II
Auf einem Hügel vor Andiquar wurde eine Gedenkfeier für Quinda abgehalten. Es war eher eine Gedächtnismesse als ein Gottesdienst. Sie hatten ein Buffet aufgebaut und eine Kapelle engagiert. Die Gäste sangen laut, wenn auch nicht besonders gut, und tranken eine Menge.
Es waren vielleicht zweihundert Leute anwesend, von denen ich einige als Mitglieder der Talino-Gesellschaft wiedererkannte. Sie toasteten ihr häufig und lautstark zu und labten sich an Erinnerungen. Der Wind spielte über dem flackernden Gantnerschild, der sie vor den Temperaturen des Winternachmittags schützte.
Chase und ich standen abseits. Chase ging an einer Krücke und war verdrossen und still. Nachdem die Gäste den größten Teil des Buffets abgeräumt hatten, versammelten sie sich um einen runden Tisch. Und sie traten vor, einer nach dem anderen, um ihr Leben in kurzen Sätzen zusammenzufassen. Sie hatte niemals jemanden verletzt, sagten sie. Sie war eine Freundin, sie war immer optimistisch, sie war eine gute Tochter gewesen, und wir würden nie wieder einer wie ihr begegnen.
Alles Klischees. Und ich erinnerte mich daran, daß diese Frau, die zweimal in mein Haus eingebrochen war, mein Leben rücksichtslos und leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte und
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