Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
»Nicht zu fassen.«
»Seine Stimme ist weich und seidig, sagt der Chorleiter.«
»Ist das wahr, Sister Soul?«, fragte ich mein kleines Mädchen.
»Echt wahr.« Jannie plapperte aufgeregt weiter und klopfte Damon auf den Rücken. Ich sah, dass sie unglaublich stolz auf ihn war. Sie war sein größter Fan, auch wenn er das jetzt noch nicht wusste. Eines Tages würde er es begreifen.
Damon konnte ein breites Lächeln nicht zurückhalten. Dann zuckte er mit den Schultern. »Keine große Sache. Ich singe doch bloß.«
» Tausend andere Jungs haben vorgesungen«, sagte Jannie.
»Es ist eine große Sache, die größte deines jungen Lebens, Bruder.«
»Hundert«, verbesserte Damon sie. »Nur hundert haben vorgesungen. Ich glaube, ich hab bloß Glück gehabt.«
» Hunderttausende haben vorgesungen!«, sprudelte Jannie hervor und lief davon, ehe ihr Bruder nach ihr schlug wie nach der lästigen Fliege, die sie manchmal sein kann. »Und du bist ein Glückskind .«
»Kann ich zur Probe mitkommen?«, fragte ich. »Ich werde mich auch gut benehmen und ganz still sein. Ich werde euch nicht allzu sehr blamieren.«
»Wenn du die Zeit erübrigen kannst«, stichelte Nana. Sie braucht mit Sicherheit keinen Boxunterricht von mir. »Dein prall gefüllter Dienstplan und so. Also, falls du die Zeit erübrigen kannst, komm mit.«
»Klar, Daddy«, sagte Damon schließlich. Also ging ich mit.
G lücklich ging ich die sechs Querstraßen mit Nana und den Kindern zur Sojourner Truth. Ich war nicht festlich gekleidet wie sie, aber das spielte keine Rolle. Plötzlich schritt ich irgendwie beschwingt dahin. Ich nahm Nanas Arm. Sie lächelte, als ich ihre Hand in meine Armbeuge legte.
»Das ist besser. Wie in alten Zeiten«, erklärte ich.
»Manchmal bist du ein richtig schamloser Charmeur«, sagte Nana und lachte laut. »Schon seit du so ein kleiner Junge warst wie Damon. Jedenfalls kannst du charmant sein, wenn du willst.«
»Du hast geholfen, mich zu dem zu machen, was ich bin, alte Frau«, sagte ich leise.
»Und ich bin stolz darauf. Und ich bin sehr stolz auf Damon.«
Wir gelangten zur Schule und gingen direkt in die kleine Aula. Ich fragte mich, ob Christine da sein würde, sah sie aber nirgends. Dann fragte ich mich, ob sie bereits wusste, dass Damon in den Knabenchor aufgenommen worden war, und ob er es Christine als Erster erzählt hatte. Der Gedanke gefiel mir irgendwie. Ich wünschte mir, dass sie sich nahe stünden. Ich wusste, dass Damon und Jannie eine Mutter brauchten, nicht nur einen Vater und eine Großmutter.
»Wir sind noch nicht besonders gut«, teilte Damon mir mit, ehe er zu den anderen Jungs ging. Auf seinem Gesicht sah ich deutlich Angst und die Furcht, sich zu blamieren. »Es ist erst unsere zweite Probe. Mr. Dayne sagt, wir wären so grauenvoll wie eine Wanne Rizinus. Mr. Dayne ist knallhart, Dad. Er lässt uns eine volle Stunde stehen, ohne dass wir uns bewegen dürfen.«
»Mr. Dayne ist noch härter als du, Daddy, und viel, viel härter als Mrs. Johnson«, meinte Jannie und grinste hinterhältig.
»Hart wie Stahl .«
Ich hatte gehört, dass Mr. Dayne ein anspruchsvoller Maestro sei – »Der große Däne« war sein Spitzname –, dass sein Chor einer der besten des Landes wäre und dass die Jungen von seinem hingebungsvollen Eifer und der Disziplin ungemein profitierten. Mr. Dayne stellte seine Sängerknaben bereits auf der Bühne auf. Er war ein sehr breiter, unterdurchschnittlich kleiner Mann. Meiner Schätzung nach wog er an die hundertzehn Kilo bei einer Größe von einsfünfundsechzig. Er trug einen schwarzen Anzug, ein schwarzes Button-Down-Hemd und keine Krawatte. Er ließ die Jungen mit ein paar lustigen Strophen von »Drei blinde Mäuse« anfangen. Es klang gar nicht mal so übel.
»Ich freue mich ehrlich für Damon. Er sieht da oben sehr stolz aus«, flüsterte ich Nana und Jannie zu. »Übrigens ist er ein verteufelt gut aussehender Bursche.«
»Im Herbst will Mr. Dayne mit einem Mädchenchor anfangen«, flüsterte Jannie mir laut ins Ohr. »Pass auf. Ich meine, hör genau hin. Ich werde es schaffen.«
»Nur zu, Mädel«, sagte Nana und umarmte Jannie. Sie versteht es unheimlich gut, anderen Menschen Mut zu machen.
Plötzlich rief Mr. Dayne laut: »Halt! Ich höre da eine Unreinheit . Ich dulde aber keine Unreinheiten, Gentlemen. Ich verlange eine klare Modulation und einen reinen Klang. Ich möchte Silber und Seide hören, keine Unreinheiten.«
Aus dem Augenwinkel sah ich Christine
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