Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
worden, dass ihr Gesicht – genauer ihr Mund – zwischen den Schenkeln des anderen steckte.
»Der Mörder treibt wirklich niedliche Spiele mit ihnen, nachdem sie tot sind«, sagte Sampson. »Beweg mal die obere, heb ihren Kopf, Alex. Siehst du es?«
Ich sah es. Eine völlig neue Methode für die Jane Namenlos, zumindest für die, von denen ich wusste. Der Ausdruck »aneinander kleben« kam mir in den Sinn. Ich fragte mich, ob dies die Botschaft des Mörders war. Das Mädchen, das oben lag, war mit dem darunter verbunden – durch ihre Zunge.
Sampson seufzte und sagte: »Ich glaube, die Zunge ist mit einer Klammer in dem anderen Mädchen befestigt worden. Ich bin ziemlich sicher, Alex. Das Wiesel hat sie zusammengeheftet.«
Ich betrachtete die beiden Mädchen und schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Eine Heftklammer, sogar eine chirurgische, würde auf der Oberfläche der Zunge nicht halten … aber Sekundenkleber würde funktionieren.«
D er Mörder arbeitete zunehmend schneller, also musste ich es auch. Die beiden toten Mädchen blieben nicht lange Jane Namenlos. Noch vor den Abendnachrichten um zehn Uhr wusste ich, wie sie hießen. Ich ignorierte die ausdrücklichen Anweisungen Häuptling Pittmans und führte die Ermittlung weiter.
Am nächsten Morgen traf ich mich mit Sampson an der Stamford Highschool, die Tori Glover und Marion Cardinal besucht hatten. Die ermordeten Mädchen waren siebzehn und vierzehn Jahre alt.
Bei der Erinnerung an den Tatort hatte ich ein flaues, ekelhaftes Gefühl im Magen, das nicht verschwinden wollte. Immer wieder dachte ich: Christine hat Recht. Du musst aussteigen. Mach etwas anderes. Es ist höchste Zeit.
Die Direktorin der Stamford Highschool war eine kleine, zerbrechlich wirkende, rothaarige Frau und hieß Robin Schwartz. Ihr Stellvertreter, Nathan Kemp, hatte mehrere Schüler zusammengerufen, die die Opfer kannten, und hatte Sampson, Thurman und mir zwei Klassenzimmer für die Befragungen zur Verfügung gestellt. Jerome sollte in einem Zimmer arbeiten, Sampson und ich im anderen.
Es fanden noch Sommerkurse statt, und die Schule war so belebt wie ein Einkaufszentrum an einem Samstag. Auf dem Weg zu den Klassenzimmern kamen wir an der Caféteria vorbei, die bereits um halb elf voll besetzt war. Nirgends ein leerer Stuhl. Der Raum roch nach Pommes, der gleiche Fettgeruch wie im Apartment des Mädchens.
Einige Schüler lärmten, doch die meisten benahmen sich ordentlich. Aus unsichtbaren Lautsprechern drang leise die Musik von Wu Tang und Jodeci. Offensichtlich wurde die Schule gut geleitet. Zwischen den Unterrichtsstunden umarmten sich einige Mädchen und Jungen zärtlich, wobei sie die kleinen Finger verhakten und sich Küsse auf die Wangen hauchten.
»Es waren nette Mädchen«, erklärte Nathan Kemp uns auf dem Weg zu den Klassenzimmern. »Sie waren nicht schlecht, nicht verderbt. Ich glaube, das werden Sie auch von den anderen Schülern hören. Tori ist im vorigen Halbjahr von unserer Schule abgegangen, aber der Hauptgrund waren die häuslichen Verhältnisse. Und Marion war eine der besten Schülerinnen an der Stamford. Ich sage es euch noch einmal, Jungs, diese Mädchen waren nicht schlecht.«
Sampson, Thurman und ich verbrachten den Rest des Nachmittags mit den Schülern. Wir erfuhren, dass Tori und Marion wirklich sehr beliebt waren. Sie waren lebenslustig gewesen, witzig und loyal ihren Freunden gegenüber, und es hatte offenbar Spaß gemacht, mit ihnen zusammen zu sein. Marion beschrieb man als »cool« – was bedeutete, dass sie in Ordnung gewesen war. Tori war manchmal »psycho« gewesen – ein bisschen überdreht. Die meisten Mitschüler hatten keine Ahnung, dass die beiden in Petworth angeschafft hatten. Allerdings wusste man, dass Tori stets Geld hatte.
Ein Verhör blieb mir eine Zeit lang besonders in Erinnerung.
Evita Cardinal, eine Cousine von Marion, besuchte die Abschlussklasse in Stamford. Sie trug weiße Jogginghosen und ein lila Stretchoberteil. Die Sonnenbrille mit dem schwarzen Gestell und den gelben Gläsern hatte sie hochgeschoben, sodass die Brille über der Stirn thronte.
Sobald sie sich mir gegenüber auf die andere Seite des Pults gesetzt hatte, heulte sie sich die Augen aus.
»Tut mir wirklich leid wegen Marion«, sagte ich aufrichtig.
»Wir werden den Kerl schnappen, der dieses scheußliche Verbrechen begangen hat. Detective Sampson und ich wohnen nicht weit weg. Wir sind auch im Southeast zu Hause. Meine Kinder gehen in
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