Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
Fescoe zog sich für den Rest des Tages zur Beratung zurück und verkündete seine Entscheidung am nächsten Morgen. »Nachdem ich beide Parteien hörte, habe ich den Eindruck, dass die Vorgehensweise keineswegs ungewöhnlich für einen Mordfall war. Mr. Shafer besitzt in der Tat diplomatische Immunität. Dennoch bin ich der Meinung, dass Detective Cross durchaus berechtigt gehandelt hat, als er Dr. Cassadys Wohnung betrat. Er hatte den Verdacht, dass ein schweres Verbrechen verübt worden war. Dr. Cassady öffnete die Tür, wodurch Detective Cross einen Blick auf Mr. Shafers Kleidung möglich wurde. Colonel Shafer hat die ganze Zeit darauf beharrt, seine diplomatische Immunität reiche aus, um Detective Cross zu verbieten, die Wohnung zu betreten.
Deshalb lasse ich hiermit zu, dass die Staatsanwaltschaft die Kleidung, die Colonel Shafer am Abend des Mordes trug, als Beweisstücke verwenden darf, ebenso das Blut auf dem Teppich vor der Wohnungstür.
Die Staatsanwaltschaft kann ferner jeden Beweis vorbringen, der in der Tiefgarage in den Fahrzeugen von Detective Hampton und Colonel Shafer gefunden wurde«, fuhr Richter Fescoe fort. Das waren die Hauptpunkte seiner Entscheidung. »Ich lasse keine Beweise zu, die gefunden wurden, nachdem Detective Cross die Wohnung gegen den Wunsch von Colonel Shafer und Dr. Cassady betreten hat. Jegliche Beweise, die während der ersten oder den nachfolgenden Durchsuchungen sichergestellt wurden, werden in diesem Prozess nicht zugelassen.«
Der Richter belehrte die Staatsanwaltschaft, dass sie während des Prozesses keinerlei Verweise auf einen der nicht zur Verhandlung stehenden Morde machen dürfe, die Geoffrey Shafer möglicherweise in Washington begangen habe. Er erklärte den Geschworenen, dass Shafer nur wegen des Mordverdachts an Detective Patsy Hampton vor Gericht stehe. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung behaupteten, in der Vorverhandlung gesiegt zu haben.
Auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude hatte sich am ersten Prozesstag eine Menschenmenge versammelt. Shafers -»Gefolgsleute« trugen UK/OK-Abzeichen und schwenkten unzerknitterte Union Jacks. Diese herrlichen Schwachköpfe entlockten Shafer ein Lächeln, als er beide Hände in Siegerpose über dem Kopf faltete. Er genoss es ungemein, ein Held zu sein.
Was für ein grandioser Augenblick – auch wenn er wegen der wahrhaft durchschlagenden Wirkung einiger Psychopharmaka ein bisschen von der Rolle war.
Beide Parteien erklärten, den »Ball schon im Netz« zu haben.
Rechtsanwälte konnten fantastischen Stuss von sich geben.
Die Presse bezeichnete die ungeheuerliche Farce als einen -»Jahrhundertprozess«. Dieses Hochspielen in den Medien jagte ihm Freudenschauer über den Rücken. Er genoss dies alles als den Tribut und die Verehrung, die ihm zustanden.
Mit Absicht kleidete er sich so elegant wie möglich. Er wollte Eindruck machen – auf die ganze Welt. Er trug einen grauen Anzug aus weich fallendem Stoff, ein gestreiftes Hemd von Budd und schwarze Oxfords von Lobb’s, St. James’s. Schon in den ersten Sekunden wurde er hundertmal fotografiert.
Wie im Traum betrat er das Gerichtsgebäude. Am köstlichsten war, dass er vielleicht alles verlor.
Saal vier befand sich im zweiten Stock. Er war der größte Sitzungssaal im Gebäude. Gleich neben den schweren Doppeltüren war eine Galerie, auf der ungefähr hundertvierzig Schaulustige Platz fanden. Dann kamen die Tische für die Anwälte, dann der Richtertisch, der etwa ein Viertel des Saales einnahm.
Der Prozess begann um zehn Uhr morgens. Stimmengewirr füllte den Raum. Die Staatsanwaltschaft war durch die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Catherine Marie Fitzgibbon vertreten. Shafer hätte sie am liebsten auf der Stelle umgebracht und fragte sich, ob er dazu vielleicht noch Gelegenheit bekäme. Er wollte Miss Fitzgibbons Skalp an seinem Gürtel.
Sie war erst sechsunddreißig, irisch-katholisch und ledig, wie so viele von der Insel, von der sie stammte. Sie bevorzugte dunkelblaue oder graue Ann-Taylor-Kostüme und trug ein allgegenwärtiges kleines Goldkreuz an einer goldenen Kette. In Juristenkreisen war sie als »Königin des Dramas« bekannt: Mit ihrer melodramatischen Art, grausige Details zu schildern, versuchte sie das Mitgefühl der Geschworenen zu gewinnen. In der Tat eine würdige Gegnerin. Und ein würdiges Opfer.
Shafer saß am Tisch der Verteidigung und gab sich Mühe, sich zu konzentrieren. Er hörte zu, beobachtete und
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