Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
zuckte mit den Schultern. »Der war nur ein kleiner Bürohengst bei der unbedeutenden diplomatischen Vertretung eines unterentwickelten Landes, das wir einschüchtern konnten. Mit England können wir das nicht.«
»Und warum nicht, zum Teufel?« Pittman schlug mit der Hand auf die Armlehne. »England ist doch kein bisschen mehr wert.«
Auf Dowds Schreibtisch klingelte das Telefon, und er gebot mit erhobener Hand Schweigen. »Das ist wahrscheinlich Jules Halpern. Er wollte um zehn anrufen, und er ist ein zuverlässiger Mistkerl. Wenn er’s ist, drücke ich auf Lautsprecher. Das Gespräch dürfte so angenehm werden wie eine Darmspiegelung.«
Dowd nahm den Hörer ab und tauschte mit dem Strafverteidiger dreißig Sekunden lang Höflichkeiten aus. Dann unterbrach ihn Halpern. »Ich glaube, wir haben wichtigere Dinge zu besprechen. Ich habe heute einen ziemlich vollen Terminplan.
Ich nehme an, Ihnen geht es nicht anders, Mr. Dowd.«
»Ja, kommen wir zur Sache«, sagte Dowd und hob die dikken, buschigen schwarzen Brauen. »Wie Sie wissen, ist die Polizei durchaus berechtigt, jemanden zu verhaften, wenn ein begründeter Tatverdacht besteht. Hier geht es nicht um ein zivilrechtliches Vergehen, Herr Anwalt, sondern um ein strafrechtliches, und das …«
Halpern unterbrach Dowd mitten im Satz. » Nicht , wenn die fragliche Person von Anfang an ihre diplomatische Immunität erklärt hat, wie im Fall meines Mandanten. Colonel Shafer stand auf dem Flur in der Wohnung seiner Therapeutin , schwenkte seinen Diplomatenausweis wie ein Stoppschild und erklärte, dass er diplomatische Immunität besitzt.«
Dowd seufzte laut ins Telefon. »An seiner Hose befand sich Blut, Herr Anwalt. Er ist ein Mörder, und zwar der Mörder einer Polizistin . Ich glaube nicht, dass ich zu diesem Thema mehr sagen muss. Und was die angebliche Diffamierung Ihres Mandanten und seines Charakters betrifft – die Polizei hat das Recht, mit der Presse zu sprechen, wenn ein Verbrechen begangen wurde.«
»Und ich nehme an, dass die Erklärung des Chief of Detectives vor Reportern – und mehreren hundert Millionen Zuschauern in der ganzen Welt – per se kein Rufmord ist?«
»Ganz recht. Es ist verbrieftes Recht bei Personen des öffentlichen Lebens, zu denen auch Ihr Mandant zählt.«
»Mein Mandant ist keine Person des öffentlichen Lebens, Mr. Dowd. Er ist Privatmann und Geheimdienstagent. Sein Lebensunterhalt, ja sein Leben hängt davon ab, als verdeckter Ermittler arbeiten zu können.«
Dowd schäumte jetzt schon vor Wut, vielleicht, weil Halperns Antworten so ruhig und dennoch wie Schnellfeuersalven kamen. »Na schön, Mr. Halpern. Warum rufen Sie uns an?«
Halpern machte eine Pause, gerade lange genug, um Dowd neugierig zu machen. »Mein Mandant hat mich beauftragt, Ihnen ein äußerst ungewöhnliches Angebot zu unterbreiten«, sagte er. »Ich habe erhebliche Bedenken geäußert, aber er behauptet, das Recht zu einem solchen Schritt zu haben.«
Dowd schaute verblüfft drein. Ich sah, dass er mit keinem Angebot gerechnet hatte. Ich auch nicht. Worum ging es?
»Legen Sie los, Mr. Halpern«, sagte Dowd. Er ließ seine hellwachen Augen zu uns herüberschweifen. »Ich höre.«
»Das glaube ich gern. Sie und Ihre hoch geschätzten Kollegen.«
Ich beugte mich vor, um jedes Wort mitzubekommen.
Jules Halpern fuhr fort und kam auf den wahren Grund seines Anrufs zu sprechen. »Mein Mandant möchte, dass jede Möglichkeit einer Zivilklage gegen ihn ausgeschlossen wird.«
Ich verdrehte die Augen. Halpern wollte sicherstellen, dass niemand seinen Mandanten vor einem Zivilgericht verklagen konnte, sobald die Strafsache abgeschlossen war. Er erinnerte daran, dass O. J. Simpson von einem Gericht freigesprochen wurde, aber vom anderen zu einer so hohen Geldstrafe verurteilt wurde, dass er Pleite ging.
»Unmöglich!«, sagte Dowd. »Nicht mal in der Hölle gäbe es eine Möglichkeit dazu. Nie und nimmer!«
»Hören Sie, es gibt eine Möglichkeit, sonst hätte ich das Thema nicht angeschnitten. Wenn der Wunsch meines Mandanten erfüllt wird und man uns einen raschen Strafprozess zusichert, wird er auf seine diplomatische Immunität verzichten . Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Geoffrey Shafer möchte vor einem Gericht seine Unschuld beweisen. Er besteht darauf.«
Dowd schüttelte ungläubig den Kopf, ebenso Mike Kersee.
Ich las in seinen Augen fassungsloses Staunen.
Keiner von uns konnte glauben, was wir soeben von dem Strafverteidiger gehört
Weitere Kostenlose Bücher