Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
Erster zu ihm gekommen war. Ich nutzte sein schlechtes Gewissen aus.
FBI und Interpol suchten fieberhaft nach dem Spiel im Internet. Ich selbst besuchte zahllose Chatrooms, traf jedoch außer dem jungen Ormson auf niemanden, der etwas über das geheimnisvolle Spiel wusste. Nur weil Shafer das Wagnis eingegangen war, in einem Chatroom zu plaudern, hatte man ihn entdeckt. Ich fragte mich, welche Risiken er sonst noch eingegangen war.
Nach Shafers Festnahme im Farragut untersuchten wir seinen Jaguar näher. Ich hatte sogar eine Stunde in seinem Heim verbracht, ehe seine Anwälte erfuhren, dass ich dort war. Ich hatte mit seiner Frau Lucy gesprochen und mit seinem Sohn Robert, der bestätigte, dass sein Vater ein Spiel spielte, das »Die Vier Reiter« hieß. Er spielte es seit sieben oder acht Jahren.
Weder die Frau noch der Sohn kannten die Mitspieler oder wussten etwas über sie. Sie glaubten nicht, dass Geoffrey Shafer irgendein Verbrechen begangen hatte.
Der Sohn nannte seinen Vater den »geradlinigsten Menschen, den es gibt«. Lucy Shafer nannte ihn einen guten Mann und schien es zu glauben.
Ich fand Illustrierte für Rollenspiele und Dutzende von Spielwürfeln in Shafers Arbeitszimmer, aber keine handfesten Unterlagen über die Vier Reiter. Shafer war vorsichtig; er verwischte seine Spuren hervorragend. Schließlich arbeitete er beim Geheimdienst, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie er würfelte, um Opfer willkürlich auszuwählen. Aber vielleicht lag darin die Erklärung für das unregelmäßige Muster der Jane-Namenlos-Morde.
Sein Verteidiger Jules Halpern beschwerte sich lautstark und heftig über das Eindringen in Geoffrey Shafers Haus; hätte ich dort hilfreiche Beweise entdeckt, wären sie mit Sicherheit vor Gericht nicht zugelassen worden. Unglücklicherweise hatte ich nicht genügend Zeit, und Shafer war ohnehin zu klug, um belastende Beweise in seinem Haus aufzubewahren. Er hatte einen Riesenfehler begangen und würde wohl keinen zweiten begehen. Oder doch?
Wenn ich spätabends auf dem Dachboden arbeitete, hielt ich zuweilen inne und dachte an Christine. Diese Erinnerungen waren schmerzlich und traurig, aber auch tröstlich. Ich begann mich auf diese Zeiten zu freuen, da ich ungestört an sie denken konnte. In manchen Nächten ging ich nach unten zum Klavier im Wintergarten und spielte Songs, die uns viel bedeutet hatten: »Unforgettable«, »Moonglow«, »‘S Wonderful«. Und ich erinnerte mich immer noch genau, wie sie ausgesehen hatte, besonders, als ich bei ihr zu Hause war: verwaschene Jeans, barfuß, mit T-Shirt oder ihrem Lieblingspullover, gelb mit U-Boot-Ausschnitt, einen Schildpattkamm im langen Haar, das immer frisch nach Shampoo duftete.
Ich wollte nicht in Selbstmitleid versinken, aber ich fühlte mich unsagbar schlecht. Ich schwebte im Ungewissen darüber, was Christine zugestoßen war. Es war wie in einer Vorhölle.
Es lähmte mich, verkrüppelte mich. Ich fühlte mich so verflucht traurig und leer. Ich musste mit meinem Leben weitermachen, doch fiel es mir unsäglich schwer. Ich brauchte Antworten, zumindest einige. Ist Christine Teil des Spiels? Diese Frage ließ mich nicht los. Ich war von dem Spiel besessen.
Bin ich ein Teil davon?
Wahrscheinlich. Und in gewisser Weise hoffte ich, dass auch Christine es war. Es war meine einzige Hoffnung, dass sie noch lebte.
U nd so war ich Mitspieler in einem wahrhaft bizarren Spiel, dem ich aus völlig falschen Gründen verfiel. Ich begann meine eigenen Regeln aufzustellen. Ich brachte neue Spieler hinzu.
Ich beteiligte mich, um zu gewinnen.
Chuck Hufstedler von der FBI-Außenstelle Washington war mir weiterhin eine große Hilfe. Je öfter ich mit ihm sprach, umso deutlicher wurde mir, dass er in Patsy Hampton verliebt gewesen war. Und so verband uns beide das Schicksal, einen geliebten Menschen viel zu früh verloren zu haben.
Nachdem ich am Freitagabend mit Damon, Jannie, Nana und der Katze Rosie im Fernsehen »Die Maske des Zorro« angeschaut hatte, stieg ich auf den Dachboden. Ehe ich ins Bett ging, musste ich noch ein paar Dinge überprüfen.
Ich schaltete den Computer ein und hörte die vertraute Nachricht: Sie haben Post. Seit jener Nacht auf Bermuda jagten diese Worte mir schreckliche Angst ein; die Eiseskälte ließ mich von Kopf bis Fuß erstarren.
Sandy Greenberg von Interpol beantwortete eine meiner E-Mails. Sie hatte beim Mr.-Smith-Fall mit mir zusammengearbeitet, und wir waren Freunde geworden. Ich hatte sie
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