Alex Cross 07 - Stunde der Rache
stöhne jemand unter großen Schmerzen.
Das Erdloch war ungefähr eins achtzig tief und zwei Meter vierzig lang und weniger als eins zwanzig breit.
Weder Jamilla noch ich sagten etwas. Unsere Aufmerksamkeit war von jedem Detail der Exhumierung in Anspruch genommen. In dem unheimlichen Licht kniff ich die Augen ein wenig zusammen. Ich atmete unregelmäßig und spürte ein Kratzen im Hals.
Ich erinnerte mich an die Tatortfotos von Mary Alice, die ich gesehen hatte. Fünfzehn Jahre alt. Ein halber Meter über dem Boden an den Füßen aufgehängt, und das für etliche Stunden. Nahezu das gesamte Blut war ausgelaufen. Noch ein KlasseIV-Tod. Grauenvoll zerbissen und erstochen.
Das Opfer in Washington war nicht erstochen worden. Was hatte das zu bedeuten? Weshalb die Variationen des Mordthemas? Was machten die Täter mit all dem Blut? Eigentlich wollte ich die Antworten auf die Fragen, die mir im Kopf umherschwirrten, gar nicht hören.
Um den Sarg wurden sorgfältig graue Gurte gelegt, und dieser dann langsam aus der Grube gehoben.
Mir fiel das Atmen schwer. Plötzlich fühlte ich mich schuldig, dass ich hier stand. Mir kam der Gedanke, dass wir die Totenruhe des armen Mädchens nicht stören dürften. Sie war schon genügend verletzt worden.
»Ich weiß, ich weiß. Es ist scheußlich. Ich fühle mich genauso«, sagte Jamilla leise. Sie berührte mit der Hand meinen Ellbogen. »Wir müssen es tun. Wir müssen herausfinden, ob es sich um dieselben Mörder handelt.«
»Ich weiß, aber weshalb fühle ich mich trotzdem so elend?«, meinte ich leise. »Ich fühle mich völlig ausgehöhlt.«
»Das arme Mädchen. Arme Mary Alice, verzeih uns«, sagte Jamilla.
Ein örtlicher Bestatter, der sich bereit erklärt hatte, zu helfen, öffnete vorsichtig den Sarg. Dann wich er zurück, als hätte er ein Gespenst gesehen.
Ich ging näher, um einen ersten Blick auf das Mädchen zu werfen. Mir stockte beinahe der Atem, und Jamilla hielt die Hand vor den Mund. Zwei Friedhofsarbeiter bekreuzigten sich und senkten die Köpfe.
Mary Alice Richardson lag direkt vor uns. Sie trug ein weites weißes Kleid, ihre blonden Haare waren zu Zöpfen geflochten. Das Mädchen sah aus, als hätte man sie lebendig begraben. An der Leiche war keine Spur von Verwesung zu erkennen. »Dafür gibt es eine Erklärung«, sagte der Bestatter. »Die Richardsons sind Freunde von mir. Sie haben mich gefragt, ob es etwas gäbe, um ihre Tochter so lang wie möglich zu konservieren. Irgendwie haben sie gewusst, dass sie ihr kleines Mädchen noch mal sehen würden.
Der Zustand der Leiche kann nach der Bestattung in allen möglichen Stadien der Verwesung sein. Das hängt von den Zutaten ab. Ich habe bei der Einbalsamierung eine Arsenlösung verwendet, so wie man es in früheren Zeiten getan hat. Das Resultat sehen Sie vor sich.«
Er machte eine Pause, während wir sprachlos die Leiche anstarrten.
»So hat Mary Alice am Tag ihrer Beerdigung ausgesehen. Das ist das arme Mädchen, das man ermordet und aufgehängt hat.«
15
U m sieben Uhr morgens waren wir wieder in San Francisco. Mir war unklar, wie Jamilla im Stande war, die lange Strecke von San Luis Obispo zu fahren, aber sie machte ihre Sache hervorragend. Um wach zu bleiben, zwangen wir uns, miteinander zu sprechen. Wir lachten sogar ein paar Mal. Ich war todmüde und vermochte kaum, die Augen offen zu halten. Als ich sie endlich im Hotelzimmer schließen konnte, sah ich Mary Alice Richardson in ihrem Sarg.
Inspector Hughes trank an ihrem Schreibtisch Kaffee, als ich um zwei Uhr nachmittags im Polizeipräsidium eintraf. Sie wirkte frisch und hellwach. Keine Spur von den Strapazen. Sie arbeitete ebenso hart wie ich an diesem Fall, vielleicht sogar noch härter. Ich hoffte, dass es gut für sie sein möge.
»Schlafen Sie nie?«, fragte ich, als ich stehen blieb, um einen Moment mit ihr zu reden. Meine Augen wanderten über ihr voll gestopftes Büro.
Ich sah das Foto eines lächelnden, sehr gut aussehenden Mannes auf dem Tisch stehen. Ich war froh, dass sie wenigstens für ihr Liebesleben Zeit hatte. Ich musste an Christine Johnson denken, die jetzt hier draußen an der Westküste lebte. Der Gedanke an ihre Zurückweisung versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Die Liebe meines Lebens? Nicht länger. Leider nicht länger. Christine hatte Washington verlassen und war nach Seattle gezogen. Dort gefiel es ihr gut, und sie unterrichtete wieder an einer Schule.
Jamilla zuckte die Schultern. »Ich bin gegen
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