Alex Cross 07 - Stunde der Rache
langer Zeit geschenkt wurde. Ich liebe dich, kleiner Kumpel.«
Während ich mit meinem Sohn sprach, legte sich wie ein kalter feuchter Nebel vom Anacostia River ein Teil der Gefühle auf mich, die ich am gestrigen Abend empfunden hatte. Zufälle, erinnerte ich mich. All die schlimmen Dinge, die während der letzten beiden Jahre um mich herum geschehen waren. Eine wirklich schlimme Pechsträhne. Der Mord an Betsey Cavalierre. Das Superhirn. Die Vampir-Mörder.
Ich brauchte eine Verschnaufpause, brauchte Luft.
Als ich an dem Morgen ins Hauptquartier kam, wartete eine Nachricht auf mich. Es hatte einen weiteren Vampir-Mord gegeben. Aber das Spiel hatte sich verändert, eine neue Richtung eingeschlagen.
Dieser Mord hatte sich in Charleston, South Carolina, ereignet. Die Mörder waren wieder an der Ostküste.
Dritter Teil
Morde im Süden
42
I ch flog nach Charleston. Kurz vor zehn Uhr morgens war ich dort. Auf den Titelseiten der Post , des Courier und auch bei USA Today hatten die Morde die üblichen Riesenschlagzeilen gemacht.
In dem hellen, sterilen, kommerzialisierten Flughafengebäude konnte ich Unsicherheit und Angst spüren. Reisende, die mir begegneten, wirkten nervös und misstrauisch. Einige sahen aus, als hätten sie in der vorigen Nacht schlecht geschlafen. Ich war sicher, dass einige befürchteten, die Mörder könnten im Herzen von Charleston zuschlagen, in der Wartehalle eines Flughafens oder in einem der Restaurants dort. Keiner fühlte sich irgendwo sicher.
Ich mietete am Flughafen von Charleston einen Wagen und machte mich auf den Weg zum Stadtpark am Colonial Lake. Ein Jogger und eine Joggerin waren dort gestern gegen sechs Uhr morgens ermordet worden. Das Paar war erst seit vier Monaten verheiratet. Die Ähnlichkeiten mit den Morden im Golden Gate Park waren unübersehbar.
Ich war noch nie in Charleston gewesen, hatte aber viele Bücher gelesen, die in der Stadt spielten. Schon bald fand ich heraus, dass Charleston hinreißend schön war. Früher war es eine Stadt mit unvorstellbarem Reichtum gewesen, der hauptsächlich von Baumwolle, Reis und – selbstverständlich – von den Sklaven herrührte, die man in den Hafen Charlestons gebracht und in den gesamten Süden verkauft hatte. Dieser Import brachte den größten Profit. Reiche Plantagenbesitzer waren zwischen ihren Plantagen und ihren Stadthäusern hin und hergefahren. In Charleston hatten die großen Bälle, Konzerte, Maskenfeste stattgefunden. Verwandte von Nana Mama waren in den Hafen Charlestons gebracht und dort verkauft worden. An der Beaufain Street fand ich einen Parkplatz, der von viktorianischen Häusern gesäumt war. Alles war wunderschön. Ich entdeckte sogar etliche englische Gärten. Das war nicht der Ort, an dem abscheuliche abartige Morde passieren sollten. Es war zu schön, zu idyllisch. Was zog die Mörder hierher? Wussten sie Schönheit zu schätzen – oder hassten sie sie? Was wollten sie uns mit jedem neuen Mord enthüllen? Welche dunklen Fantasien trieben sie an? Ihre eigene Horror-Geschichte? Wenn Charleston wegen der Morde misstrauisch und verängstigt war, dann herrschte auf den Straßen um Colonial Lake schierer Terror. Die Menschen beäugten einander kalt und misstrauisch. Nirgendwo etwas, das einem herzlichen Lächeln auch nur ansatzweise glich, nirgendwo die berühmte Gastfreundschaft der Südstaaten.
Ich hatte Kyle eine Nachricht hinterlassen, dass wir uns am See treffen würden. Breite Gehwege zogen sich um ihn herum; schmiedeeiserne Bänke. Gestern hatte es hier wohl wie in einem Bilderbuch ausgesehen, völlig sicher. Heute war bei der Kreuzung von Beaufain und Rutledge alles mit dem gelben Plastikband abgesperrt, mit dem die Polizei einen Tatort sichert. Die Polizei von Charleston bildete einen Kordon und musterte jeden misstrauisch, als erwartete sie, die Mörder könnten zurückkehren.
Schließlich sah ich Kyle im Schatten eines weitausladenden Baumes. Ich ging zu ihm. Der Morgen war warm, vom Meer her wehte eine Brise, die nach Salz und Fisch roch. Kyle trug seine übliche Kleidung: grauer Anzug, weißes Hemd und eine unauffällige blaue Krawatte. Er sah heute noch mehr als sonst wie der Dramatiker und Schauspieler Sam Shepard aus. Kyles hageres Gesicht wirkte erschöpft, beinahe so ausgemergelt, wie ich mich fühlte. Die Morde gingen auch ihm an die Nieren. »Gestern Morgen muss es ungefähr so ausgesehen haben wie jetzt«, meinte ich, nachdem ich ihn begrüßt hatte. »Allerdings haben sie das
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