Alex Cross 07 - Stunde der Rache
geschlafen. Wo sind Sie, Alex? Sagen Sie bloß nicht, immer noch da draußen. Alex, was, zum Teufel, ist denn los?«
»Hören Sie genau zu. Superhirn ist vor Ihrem Haus. Ich kann ihn sehen. Ich glaube, er wird bald versuchen hineinzugehen.
Ich möchte zu Ihnen kommen, aber er soll mich nicht sehen.
Gibt es einen Hintereingang?«
Dann sagte ich ihr, wer der Mörder war.
Sie explodierte vor Wut. »Ich wusste gleich, dass mit ihm etwas nicht stimmt – aber das haut mich um. Wir müssen diesen elenden Dreckskerl zur Strecke bringen.«
Sie erklärte mir, wo der ehemalige Dienstboteneingang war. Danach konnte ich über die Feuerleiter zu ihr gelangen. Ich schlich zum Haus und hielt mich im Schatten. Ich bezweifelte, dass Kyle mich gesehen hatte. Ich hoffte, nicht. Aber schließlich war er – Superhirn.
Nie hatte ich gegen jemand gekämpft, der so intelligent und gerissen war wie er. Er verstand vom Observieren viel mehr als ich.
Er machte keine Fehler – zumindest bis jetzt nicht.
Ich fand den Hintereingang problemlos, dann kletterte ich die Leiter hinauf. Ich bemühte mich, so leise wie möglich zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wo sich Kyle in diesem Moment befand.
Als ich zu Jamillas Wohnung kam, stand die Tür offen. Mir stockte der Atem, mir wurde übel. »Jamilla?«
Sofort erschien sie in der Diele. »Kommen Sie rein, Alex. Mir geht's gut. Jetzt haben wir ihn, nicht er uns.«
Ich ging schnell in die Wohnung, wir machten kein Licht an. Trotzdem konnte ich im Wohnzimmer und in der Küche fast alles erkennen. Da war die Terrassentür. Ein Erker mit Sitzbänken, Jamillas Zuhause. Der Ort, wo er sie hatte ermorden wollen. Ich wagte einen Blick nach draußen. Ich sah Kyle nicht auf der Straße. Er war auf der Pirsch.
Jamilla sah nicht verängstigt aus, nur verblüfft und wütend. Sie hatte die Dienstwaffe in der Hand und war auf alles vorbereitet.
Ich glaube nicht, dass ich das, was draußen geschehen war, voll begriffen hatte. Alles schien so unwirklich zu sein. Ich
hatte einen Tunnelblick. Meine Nerven waren ausgefranst. Kyle Craig war mein Freund gewesen. Wir hatten gemeinsam an einem halben Dutzend Fälle gearbeitet.
»Warum ist er da draußen, Alex?«, fragte Jamilla schließlich. »Warum ist er hinter mir her? Ich verstehe dieses elende Arschloch nicht. Was habe ich ihm getan?«
Ich schaute ihr in die Augen, zögerte ein oder zwei Sekunden, ehe ich antwortete. »Er ist nicht hinter Ihnen her, jedenfalls glaube ich das nicht. Es geht um mich – alles dreht sich um Kyle und mich. Ich bin ein Teil seiner Wahnvorstellungen geworden, der Geschichte, die er sich täglich erzählt. Er will beweisen, dass er viel besser ist als ich. Er muss beweisen, dass er tatsächlich Superhirn ist.«
98
S uperhirn hatte bereits den nächsten Schritt getan, obgleich dieser, wie er wusste, nur ein Halbschritt im großen Plan war. Er hatte sich zurückgezogen und stand sechs Blocks entfernt von Jamilla Hughes Wohnung auf einem Hügel hinter dem Jackson-Spielplatz. Von diesem Standort aus konnte er ihr Haus beobachten. Er sah den Erker und die kleine Terrasse. Er genoss das alles ungemein – die unwiderrufliche Auferlegung seines Willens, seines Ego, auf die Welt. So war es seit über zwölf Jahren. Niemand war ihm je auf die Schliche gekommen oder hatte vermutet, wer er in Wirklichkeit war. Cross war jetzt drin, das machte alles schwieriger – vielleicht aber auch leichter. Er musste bald eine Entscheidung treffen. Sollte er jetzt alles riskieren? Alles verändern? Jahrelang hatte er ein kompliziertes Doppelleben geführt. Er hatte getan, was immer er wollte, wo immer und wann auch immer. Er hatte seine Freiheit genossen, wie viele andere hatten je diese verbotene Frucht gekostet? Doch vielleicht war die Zeit zur Veränderung gekommen. Vielleicht war sein Leben zu sicher, zu voraussehbar geworden. Kyle liebte die Jagd – in dieser Hinsicht war er wie Casanova und der Gentleman-Killer, zwei äußerst talentierte Mörder, die er gut gekannt hatte. Der eine hatte in North Carolina gearbeitet, der andere in Südkalifornien. Ja, er stimmte Casanova zu, dass der Mensch von Natur aus Jäger sein musste. Und deshalb jagte er – Menschen und Frauen. Er genoss es, beide Geschlechter zu ermorden, aber er, Kyle, ging noch einen wichtigen Schritt weiter.
Er jagte auch Mörder. Er eliminierte seine Konkurrenz. Er schlug alle in ihren eigenen Spielen.
Er hatte Casanova schon jahrelang gekannt, ehe er mit Dr. Cross diesen üblen
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