Alex Cross 8 - Mauer des Schweigens
sein. Das konnte sie vor mir nicht verbergen. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Angst hatte mich gepackt. War sie krank? Wie krank?
Nana schüttelte den Kopf.
»Nein, wirklich nicht, Schätzchen. Ich konnte nur nicht schlafen. Und jetzt erzähle mir von deiner Reise. Wie geht’s Jamilla?«, fragte sie, und ihre Augen leuchteten auf. Nana mochte Jamilla. Auch das konnte sie nicht vor mir verbergen.
»Es geht ihr prächtig, und sie lässt dich auch herzlich grüßen.
Sie vermisst alle. Ich hoffe, ich kann sie überreden, wieder in den Osten zu fliegen, aber du weißt ja, im Herzen ist sie Kalifornierin.«
Nana nickte. »Ich hoffe, sie kommt«, sagte sie. »Jamilla ist eine sehr starke Frau. In ihr hast du eine gleichwertige Partnerin gefunden. Ich nehme es ihr auch nicht übel, dass sie von der Westküste stammt. Und übrigens ist Oakland eher wie Washington als San Francisco. Meinst du nicht auch?«
»Absolut.«
Ich schaute Nana immer noch in die Augen. Ich begriff die Welt nicht mehr. Sie schimpfte nicht mit mir – wie sonst. Was war los? Eine Minute oder so schwiegen wir, was für uns ausgesprochen ungewöhnlich war. Normalerweise diskutieren wir heftig, bis einer aufgibt.
»Weißt du, ich bin zweiundachtzig. Ich habe mich nie so gefühlt, eher wie siebzig oder fünfundsiebzig, na ja, sogar achtzig. Aber, Alex, jetzt spüre ich plötzlich mein Alter. Ich bin zweiundachtzig . Ob mir’s gefällt oder nicht.«
Sie nahm meine Hand und drückte sie. Die Traurigkeit war wieder in ihren Augen zu sehen, vielleicht sogar ein wenig Angst.
Ich spürte einen Kloß im Hals. Etwas stimmte nicht mit ihr.
Was war es? Warum wollte sie es mir nicht sagen?
»In letzter Zeit hatte ich Schmerzen in der Brust und Kurzatmigkeit. Angina soundso. Nicht so gut, nicht so gut.«
»Warst du bei Dr. Rodman? Oder bei Bill Montgomery?«, fragte ich.
»Ich war bei Kayla Coles. Sie war in der Nachbarschaft und hat einen Mann ein paar Häuser weiter behandelt.«
Ich begriff nicht. »Wer ist Kayla Coles?«
»Dr. Kayla Coles macht im Southeast Hausbesuche. Sie hat ungefähr ein Dutzend Ärzte und Krankenschwestern zusammengetrommelt, die den Menschen in dieser Gegend helfen.
Sie ist eine fantastische Ärztin und ein guter Mensch, Alex. Sie tut im Southeast viel Gutes. Ich mag sie sehr.«
Ich ärgerte mich ein wenig. »Nana, du bist kein Fall für die Wohlfahrt. Wir haben genug Geld, dass du dir den Arzt aussuchen kannst.«
Nana presste die Augen zusammen. »Bitte, hör mir zu, und zwar aufmerksam. Ich bin zweiundachtzig und werde nicht ewig leben. Auch wenn ich das gern täte. Aber ich kümmere mich selbst um mich, und das werde ich auch in Zukunft tun.
Ich mag Kayla Coles, und ich vertraue ihr. Deshalb habe ich sie mir ausgesucht.«
Langsam stand Nana auf, küsste mich auf die Wange und ging ins Bett. Zumindest stritten wir uns wieder.
58
Später ging ich in mein Arbeitszimmer auf dem Dachboden.
Alle schliefen, und im Haus war es still. Ich arbeite gern, wenn alles so friedlich ist. Ich machte mich wieder an die Armee-Fälle. Ich konnte sie nicht vergessen, wollte es auch nicht. Die Leichen bunt bemalt. Diese unheimlichen Strohpuppen. Das noch unheimlichere, alles sehende Auge. Unschuldige Soldaten zu Unrecht mit dem Tod bestraft.
Und wer wusste schon, wie viele weitere Soldaten für eine Hinrichtung vorgesehen waren?
Vor mir lag jede Menge Material, das ich durchsehen musste.
Selbst wenn nur einige dieser Hinrichtungen miteinander verknüpft werden konnten, würde das in der Armee wie eine Bombe einschlagen. Ich setzte meine Nachforschungen fort, dazu suchte ich nach Hintergrundinformationen über die Strohpuppen und das böse Auge. Ich suchte im Internet über Lexis-Nexis, das Informationen aus den meisten lokalen und nationalen und auch einigen internationalen Zeitungen enthielt.
Viele Polizisten unterschätzen die Nützlichkeit von Recherchen in der Presse, ich nicht. Ich habe Verbrechen mit Hilfe von Informationen gelöst, die Polizisten an die Presse weitergegeben hatten.
Ich las Berichte über einen ehemaligen Privat First Class in Hawaii. Er war angeklagt, fünf Männer während Sex-Sklaverei-Folter-Orgien in den Jahren 1998 bis 2000 getötet zu haben. Er saß zur Zeit in der Todeszelle.
Ein Captain in der Armee hatte vor nicht ganz drei Monaten zwei junge Offiziere getötet. Er war verurteilt worden und wartete auf seine Hinrichtung. Seine Frau war in Berufung gegangen. Man hatte ihn aufgrund von DNA-Beweisen
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