Alex Cross - Cold
was ihr bekannt vor kam. Es war der Koffer mit dem Laptop, den sie und Tarik aus Saudi-Arabien mitgebracht hatten. Der, den sie im Four Seasons hatten zurücklassen müssen.
Sie starrte ihn regungslos an. »Wie habt ihr...«
» Pscht!«, wiederholte Jiddo. »Wundere dich nicht. Ich wäre sonst sehr enttäuscht.«
Der Assistent trug den Koffer zu ihnen herüber und klappte ihn auf der Motorhaube des Mercedes auf.
»Wir haben ein sehr sicheres System geschaffen«, sagte Jiddo. »Vielleicht zu sicher. Jetzt, wo der Mann, den ihr Onkel nennt, außer Gefecht gesetzt ist, ist unser Zugang zu gewissen Informationen... nun ja, etwas eingeschränkt.«
Hala begriff sofort. »Ich soll meine Dateien öffnen«, sagte sie und erntete dafür ein anerkennendes Lächeln. Sie stellte sich vor den Laptop, wo bereits ein blinkender Cursor auf einem ansonsten leeren Monitor zu sehen war. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte sie ihre immer noch rasenden Gedanken zur Ruhe gebracht. Die benötigten sechzehn Zahlen und Buchstaben flossen ihr aus den Fingern, als ob die Muskeln sie einprogrammiert hätten: 3EE4XYQ9R21WV0W.
Der Bildschirm blinkte einmal, dann tauchten nacheinander alle möglichen bekannten Icons auf. Hala überprüfte sie mit schnellem Blick, nur um sicherzustellen, dass alles so war, wie sie es zurückgelassen hatte, Namen der Zielpersonen, Privatadressen, ein Verzeichnis der öffentlichen Auftritte, Kartenmaterial, Sicherheitskontakte.
»Ich glaube, es ist alles da«, sagte sie.
»Sehr gut«, erwiderte Jiddo. »Und jetzt...«
Tarik machte sich bemerkbar und in seiner Stimme lag ein seltsamer Emst. »Hala!«
Sie drehte sich um und sah, dass das andere Paar sich hinter sie und Tarik gestellt hatte. Der Mann streckte ihnen die geöffnete Handfläche entgegen. Darin lagen die beiden Zyanidkapseln, die man ihr vor einigen Stunden abgenommen hatte.
Die Frau rückte etwas zur Seite, um sie mit ihrer SIG aus einem anderen Winkel ins Visier zu nehmen.
»Und jetzt«, wiederholte Jiddo, »müssen wir euch um einen letzten Akt der Hingabe an die FAMILIE bitten.«
108
Hala starrte den alten Mann an, konnte alles verstehen... und verstand gleichzeitig gar nichts mehr. Die FAMILIE sollte doch eigentlich klug sein und weise.
»Das kann nicht euer Ernst sein«, sagte sie.
»Ich denke, die Voraussetzungen sind bekannt«, erwiderte er. »Es wäre uns lieber, wenn euer Tod von den Behörden als Selbstmord betrachtet wird.«
Diese Worte trafen Hala wie ein eiskalter Wasserstrahl. Genau wie die Tatsache, dass alles sich mit einem Mal ins Gegenteil verkehrt hatte. Sie konnte sich noch gut an den Abend im Harmony Suites Business Hotel erinnern. Dort hatte sie praktisch dieselben Worte gegenüber dem anderen Paar gebraucht. Das sie für Verräter gehalten hatte.
Das ihr als Verräter genannt worden war.
»Wie könnt ihr so etwas tun? Nachdem wir euch so große Dienste erwiesen haben? Nach allem, was wir durchgemacht haben?«
Jiddo blieb ungerührt. »Als ihr in dieses Land gekommen seid, da wart ihr darauf vorbereitet, jederzeit zu sterben, ist es nicht so?«
»Für die Sache!«, gab Hala zurück. »Aber doch nicht so! Doch nicht, weil es für die FAMILIE bequemer ist!«
»Und wo genau liegt da der Unterschied?«, erwiderte er. »Bitte, trefft die richtige Entscheidung. Wenn ich mich nicht irre, dann habt ihr... zwei Kinder in der Heimat. Ist das korrekt?«
»Das würdet ihr nicht!«, sagte sie. Aber natürlich wusste sie, dass sie das würden.
»Hala.« Tarik stand neben ihr. Seine Stimme hatte seit Tagen nicht mehr so klar und entschieden geklungen. Vielleicht noch nie. »Wir müssen es tun, Hala. Fahd und Aamina sind gut versorgt. Deine Eltern...«
»Das kann doch nicht wahr sein!«, sagte sie.
»Dies ist meine letzte Warnung«, sagte Jiddo.
Wie in einem Albtraum sah sie zu, wie Tarik dem anderen die Kapseln aus der Hand nahm. Er drückte ihr eine in die zitternde Hand und schloss ihre Finger darum. Dann küsste er sie, ohne jedes Bedauern. In seinen Augen waren Tränen zu sehen, aber auch Liebe. So viel Liebe.
»Wir sehen uns wieder«, sagte er.
»Tarik, nicht!«
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Aber es war zu spät. Er steckte sich die Kapsel in den Mund und zerbiss sie. Sie sah, wie er das Gesicht verzog, als das Glas sich in sein Zahnfleisch bohrte. Dann das Blut, das von seinen Lippen tropfte, jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er tot war. Ihr Tarik war ein sterbender Mann.
Hala wandte sich dem alten Mann zu.
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