Alex Cross - Cold
zwei Kugeln in die Brust bekam. Wir machten keine halben Sachen. Wir wollten ihn töten. Er schlug hart auf dem Waldboden auf.
Ich behielt beide Hände an meiner Waffe und ihn immer im Visier, während ich näher trat. Glass lag flach auf dem Rücken, hatte beide Augen geschlossen. Keine Regung war zu erkennen. War es jetzt endlich vorbei?
»Such ihn ab«, sagte ich zu John. »Vorsichtig.«
Zuerst trat Sampson Glass’ Waffe beiseite. Dann tastete er mit beiden Händen zunächst Glass’ Seiten und dann die Beine ab, um nach weiteren Waffen zu suchen. Er legte zwei Finger an Glass’ Halsschlagader. »Er hat noch Puls«, sagte er und ging zum Wagen. »Ich mache Meldung.«
Glass stöhnte schwach.
»Rodney?«, sagte ich. »Hören Sie mich? Halten Sie durch. Wir holen Hilfe.«
Er gab keine Antwort. Aber jetzt grinste er nicht mehr.
Ich nahm mein Messer und schlitzte sein Sweatshirt auf. In seiner Brust klafften zwei dunkle Löcher. Soweit ich sehen konnte, steckten beide Kugeln noch im Körper.
Ich konnte Johns drängende Stimme am Funkgerät hören. »Hier spricht Detective Sampson vom Washington Police Department. Wir benötigen sofort ärztliche Hilfe. Wir befinden uns in einer nicht gekennzeichneten Feuerschneise beim Hampton Valley...«
Während John noch mit der Funkzentrale sprach, reichte er mir eine Plastiktüte aus dem Auto. Ich drückte sie auf Glass’ Brustkorb, versuchte damit die Wunden abzudichten, damit keine Luft eingesaugt wurde.
Glass schüttelte den Kopf. Er griff nach meinem Handgelenk und wollte mich daran hindern.
»Scheißegal«, stieß er hervor. »Kein Zweck.«
Offensichtlich war ein Lungenflügel durchbohrt, vielleicht sogar beide. Bei jedem seiner mühsamen Atemzüge stieß er einen feinen, blutigen Nebel aus. Im Prinzip war er gerade dabei zu ertrinken, und das wusste er genau. Schließlich war er Krankenpfleger.
»Mein Junge... hätte nicht sterben dürfen«, sagte er. Mit einem Mal, so unfassbar es war, kehrte dieses scheußliche Grinsen noch einmal zurück. »Du hättest sterben sollen. Du hast alles kaputt gemacht.«
Und dann, noch bevor Sampson seinen Funkspruch beendet hatte, stieß Rodney Glass ein letztes, langes Mal den Atem aus und war nicht mehr. Es gibt Tage, da passieren die verrücktesten Dinge. Im einen Moment versuchst du, einen Menschen daran zu hindern, dich umzubringen, und im nächsten Augenblick tust du alles, um ihm das Leben zu retten.
Ich würde gerne behaupten, dass ich etwas empfunden habe, als Glass gestorben ist, aber die Wahrheit lautet: Da war nichts. Keine Freude, aber auch kein Mitleid. Nach allem, was geschehen war, schien das Ganze nur ein unglaublich schnelles Ende gefunden zu haben, genau wie die Geschichte, die Glass die ganze Zeit über hatte erzählen wollen, auf seine eigene, umnachtete Art und Weise.
Er hat nicht das Ende bekommen, das er so unbedingt haben wollte, sondern eines, das er verdient hatte.
Epilog
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FAMILIENBANDE
115
»Losfahr’n, losfahr’n, losfahr’n! Ich bin fertig. Lasst uns endlich losfahr’n!«
Ali trug bereits Hemd und Krawatte, ein eindeutiges Startsignal. Je schneller wir aus dem Haus waren, desto schneller waren wir wieder da, und er wurde diese verfluchte seidene Halsschlinge los. »Nun halt doch mal kurz still, kleiner Mann«, sagte ich. »Vielleicht geht dein großer Bruder ja noch mit dir eine Runde zum Wakeboarden.«
Dann machte ich das, was ich mir geschworen hatte, niemals zu tun, und parkte Ali vor einem Videospiel, damit er Ruhe gab. Damon, der zum Thanksgiving-Wochenende aus dem Internat nach Hause gekommen war, schnappte sich den zweiten Wii-Controller.
»Es ist schön, dass du da bist, Day«, sagte ich. »Wir vermissen dich wirklich sehr.«
»Und ich vermisse es, Ali in den Hintern zu treten«, meinte Damon und sprang mit beiden Füßen ins virtuelle Wasser. »Los geht’s, kleiner Mann.«
Die Damen des Hauses waren alle noch auf ihren Zimmern. Ich rannte nach oben und klopfte an Jannies Tür, hinter der die neueste Scheibe von Jennifer Hudson auf voller Lautstärke dröhnte.
»Nicht reinkommen!«, brüllte sie, um die Musik zu übertönen.
»Zehn Minuten, Miss Cross.«
Ava war schon angezogen. Ihre Zimmertür stand offen. Sie lag der Länge nach auf dem Bett und war in Nanas aktuelle Pflichtlektüre vertieft Bis(s) zum Morgengrauen.
»Wie findest du das neue Buch?«, erkundigte ich mich.
»Ganz okay. Abgedreht, irgendwie.«
»Ich bin jedenfalls froh, dass du liest«, sagte
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