Alex Cross - Cold
Anstand.«
Im Blick des Dicken zeigte sich Furcht, aber auch Ärger. »Oder was? Erschießt ihr uns sonst?«
Hala meinte: »Es wäre besser, wenn ihr das still und leise erledigen würdet, aber wenn ihr etwas Ermutigung benötigt, dann soll ich euch an eure Angehörigen in der Heimat erinnern.«
»Aber das ist doch alles ein schreckliches Missverständnis!«, brabbelte die Frau weiter. »Wir haben nichts gemacht. Wir sind loyale Kämpfer für die Sache.«
»Das ist wirklich sehr rührend«, sagte Hala. »Aber für mich oder für die FAMILIE spielt das alles keine Rolle. Nicht mehr. Und jetzt zähle ich bis fünf.«
»Bitte...«
»Eins.«
»Ich flehe dich an. Schwester?«
»Zwei.«
Der Mann nahm Tarik die beiden Gläser ab. Eines davon drückte er seiner Frau in die Hand. »Wir haben keine andere Wahl, Sanaa. Denk an Gabir. Denk an Siti.«
»Denk an drei«, sagte Hala und setzte den Countdown fort. Sie hatte kein Erbarmen mit diesen Leuten. Sie waren unloyal und schwach. Diese Mission war zu bedeutend, um einen Fehler zu riskieren. »Vier.«
Der Mann legte den Kopf in den Nacken und stürzte die Mischung hinunter wie einen Schnaps. Dann half er seiner Frau, das Gleiche zu tun.
Die Frau verschluckte sich, musste würgen, während sie schluchzte und gleichzeitig die milchige Flüssigkeit trank, aber schließlich hatte sie es geschafft. Zumindest hatte sie so viel zu sich genommen, dass es reichte. Ihre Lippen verfärbten sich rosa. Ihr Atem ging in ein scharfes Röcheln über. »Ich sterbe«, flüsterte sie. »Warum? Warum muss ich sterben?«
Ihr Mann blickte Hala mit hasserfülltem Blick an. »Mörderin«, zischte er.
»Bilde dir ja nichts ein«, erwiderte Hala und deutete auf das leere Glas in seiner Hand. »Du bist kein Mordopfer, du Dummkopf. Du bist eine Nummer in der Selbstmordstatistik.«
Tarik nahm die beiden Segeltuchtaschen und brachte sie zur Tür. Hala blieb, wo sie war. Sie genoss es, diesen beiden beim Sterben zuzusehen, aber außerdem war es auch ihre Aufgabe, bis zum Schluss darüber zu wachen, dass alles wie geplant ablief.
Die Frau war die Erste, die von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde, spasmisch zuckte, sich wand und ausschlug, bis sie schließlich zusammenbrach. Ihr Mann, der vielleicht doppelt so viel wog wie sie, hielt länger durch. Er musterte Hala mit riesigen Käferaugen... und sie erwiderte seelenruhig seinen Blick. Sein Geschmacks- und Geruchssinn war mit Sicherheit schon abgestorben. Als Nächstes würde er das Augenlicht verlieren, dann das Gehör, kurz vor dem endgültigen Ende...
»Hala!« Tarik sprach ein wenig lauter. »Es ist vollbracht. Gehen wir. Bitte. Lass uns gehen.«
Sie nahm den Waffenkoffer und ging langsam rückwärts zur Tür, ohne die Sterbenden aus den Augen zu lassen. Mit einer letzten spasmischen Zuckung stürzte der Dicke nach vorn und landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich, direkt neben seiner Frau.
»Jetzt ist es vollbracht«, sagte Flala und wandte sich um. »Ich finde, es ist ziemlich gut gelaufen. Wir werden immer besser, findest du nicht auch?«
24
Ich wachte schlecht gelaunt auf, mürrisch, gereizt, gierig nach Koffein. Ungewöhnlich für mich, aber so war es eben.
Meistens reden Nana und ich beim Frühstück über den bevorstehenden Tag oder diskutieren irgendeine Schlagzeile. Aber heute machten die Schlagzeilen mir schlechte Laune.
Ich versteckte mich hinter meiner Washington Post und kochte vor Wut, während ich lesen musste, wie »die zuständigen Stellen« im Fall der entführten Coyle-Kinder seit vier Tagen auf der Stelle traten.
Irgendwann während meiner zweiten Tasse Kaffee klopfte jemand leise an die andere Seite der Zeitung.
»Erfährst du da drin eigentlich irgendetwas Neues?«, fragte Nana. »Oder brütest du bloß deinen Ärger aus?«
»Ich brüte. Und ich will nicht drüber reden«, sagte ich.
»Worüber reden?« Das war Jannie, die gerade die Küche betrat. Ihr Bruder Ali bildete hörbar die Nachhut, indem er seinen Schulranzen Stufe für Stufe die Treppe herunterrumsen ließ. Der Kleine war gerade erst in die Schule gekommen. Wie viel Zeug brauchte er da? Es hörte sich an, als hätte er einen halben Zentner Bücher dabei.
»Ali, nimm das Ding in die Hand! Du zerkratzt ja die ganzen Stufen!«, rief ich ihm zu. »Bitte und danke!«
»Gern geschehn«, krähte er zurück und rummste unverdrossen weiter.
Mein Ältester, Damon, war im Internat und ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt,
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