Alex Cross - Cold
musste sein. Eine Minute später hatte Amy Ned am Telefon.
»Hallo, Schatz, ich bin’s. Du, Alex Cross ist gerade hier. Er möchte dich sprechen. Hast du mal ein Sekündchen Zeit?«
Ich weiß nicht, was Ned geantwortet hat, aber ich konnte seinen Tonfall hören. Jetzt war Amy diejenige, die ein peinlich berührtes Gesicht machte. Ich streckte meine Hand aus, und sie gab mir das Telefon, während er noch lauthals vor sich hin schimpfte.
»...reißen mir den Arsch auf, und ich brauche dir bestimmt nicht zu sagen...«
»Ned«, unterbrach ich ihn. »Ich bin’s.«
»Alex?«
»Tut mir wirklich leid.«
»Mann, du raubst mir echt den letzten Nerv.«
»Dann beruht das ja auf Gegenseitigkeit. Du brauchst mir nur zu sagen, dass ihr mich in der Coyle-Sache aus einem guten Grund aufs Abstellgleis geschoben habt. Ich vertraue dir. Aber ich komme mir irgendwie völlig fehl am Platz vor, und dabei könnte ich im Moment wirklich so viele sinnvolle Sachen machen.«
»Genau. Zum Beispiel einfach bei jemandem zu Hause aufkreuzen«, sagte er.
»Ned, Washington steht unmittelbar vor einer riesigen Katastrophe. Meine Kinder können nicht zur Schule gehen. Das Ganze ist der Horror. Irgendwelche Leute sind in das Wasserversorgungsnetz eingedrungen. Vielleicht haben sie auch die Präsidentenkinder in ihrer Gewalt.«
Er blieb zunächst stumm. Irgendwann bekam ich dann zu hören: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll...«
»Ehrlich gesagt, das hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt«, entgegnete ich. »Du musst mir etwas sagen, Ned, irgendetwas.«
»Alex, was willst du denn hören? Die zerlegen jede einzelne Information in tausend kleine Häppchen. Ich glaube nicht, dass ich im Moment sehr viel mehr weiß als du.«
Ned und ich, wir kennen uns schon lange. Wir haben Dinge erlebt und gemeinsam überstanden, die wirklich kaum zu glauben sind, und haben einander schon etliche Male abseits der offiziell vorgeschriebenen Pfade geholfen. Darum wunderte ich mich darüber, dass ich jetzt versuchen musste, sein Vertrauen zu gewinnen. Irgendwie schmerzte es mich auch. Das sagte ich ihm.
Es folgte eine längere Pause. Ich hörte, wie Ned am anderen Ende der Leitung tief Luft holte. Und ich fing an, mich schlecht zu fühlen. Weil ich so mit ihm redete. Weil ich zu ihm nach Hause gekommen war. Weil ich Amy benutzt hatte.
»Hör zu, ich muss jetzt Schluss machen«, sagte er. »Muss zu einer Telefonkonferenz.«
»Ned!«
»Hab Geduld.«
»Nicht auflegen!«, rief ich noch, aber da war es schon zu spät. Wäre es mein eigenes Telefon gewesen, ich hätte es wahrscheinlich gegen die Wand gedonnert.
Als ich mich umdrehte, starrte Amy mich an. Mir war, als müsste sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Ich hatte das Gefühl, als würdest du am liebsten durchs Telefon kriechen und ihn erwürgen«, sagte sie.
»Nein. Beachte mich am besten gar nicht. Ich möchte bloß...« Warum nur hatte ich das dringende Bedürfnis, ein Loch in die Hauswand meines Freundes zu schlagen? Was wollte ich denn eigentlich erreichen?
»Ich möchte einfach nur, dass diese Kinder gefunden werden«, sagte ich. »Das ist mein einziger Wunsch, Amy. Alles andere ist mir im Moment völlig egal.«
27
Er würde garantiert ein dickes, fettes Buch darüber schreiben, eines Tages, wenn das alles weit, weit zurücklag. Aber nicht wie die anderen alle, zum Beispiel sein Schwager, die immer bloß erzählten, dass sie »irgendwann mal« ein Buch schreiben wollten. Er würde es tatsächlich machen.
Aufnahme.
»Es war nicht so, dass Zoe und Ethan persönlich irgendetwas falsch gemacht hatten. Sie waren nur zufällig zum falschen Zeitpunkt in die falsche Familie hineingeboren worden. Sie tragen keine Schuld an alldem, so wenig wie Sie oder ich. Es mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, aber irgendjemand muss eben das Opferlamm spielen. Das lehrt uns die Geschichte. Jede Tragödie hat ihre Auswirkungen.«
Stopp.
Das hörte sich doch tatsächlich halbwegs sinnvoll an. Bedeutend. Wahr. So langsam wusste er, wie es ging. Vielleicht ließ sich ja sogar ein Titel daraus machen. Opferlämmer ? Nicht schlecht, obwohl er immer noch an Lasset die Kinder hing. »Denn ihrer ist das Reich Gottes.«
Aber diese Entscheidung musste er nicht heute treffen. Das Buch war ja noch gar nicht geschrieben. Verdammt noch mal, die Geschichte war noch nicht einmal zu Ende erzählt. Es blieb genügend Zeit, damit die kleinen Nebenstränge sich entfalten konnten. Bis jetzt hatte
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