Alex Cross - Cold
»Hilfe! Polizei, verdammt noch mal!«
Bree hatte ihre Dienstmarke bereits gezückt und hielt sie dem Mädchen vor die Nase. Die Glock ließ sie im Halfter stecken.
»Ich bin die Polizei, junge Dame. Und jetzt umdrehen! Du hast leider die falsche Großmutter umgenietet.«
Bei einer Tankstelle an der nächsten Straßenecke befahl sie dem Mädchen, sich an die Wand zu stellen, und durchsuchte sie gründlich. Weder an den Seiten noch in der Bauchtasche ihres Kapuzenshirts ließ sich etwas ertasten. Aber dann, in der rechten vorderen Tasche ihrer Shorts, spürte sie etwas.
»Ist das etwa eine Kreditkarte?«
»Ja, genau«, sagte das Mädchen über die Schulter. »Die gehört meiner Mutter, okay? Sind wir jetzt fertig?«
Bree trat zurück, aber nur einen Schritt. »Zeig her«, sagte sie.
»Leck mich«, zischte das Mädchen. »Ich muss gar nix.«
»Weißt du was? Da scheiß ich drauf.«
Sie packte die junge Verdächtige am Arm und fasste ihr selbst in die Hosentasche. Zum Teufel mit ihren Rechten. Für diesen Blödsinn war es einfach zu heiß heute.
Und, wie vermutet, zog sie ein verschwitztes Knäuel ans Tageslicht, bestehend aus drei Zwanzigern und einer Visakarte, die ihr seltsam bekannt vorkam. Der Name, der darauf eingraviert war, lautete Regina Cross.
»Die gehört also deiner Mutter, ja?«
»Also gut, also gut.« Das Mädchen reagierte sofort. »Irgend so ein Typ hat sie mir gegeben, da hinten. Ich schwöre bei Gott und allen Heiligen! Dort drüben!« Sie deutete in Richtung Seward Square.
Bree war nicht bereit, das zu schlucken. »Gehen wir«, sagte sie und setzte sich in Bewegung.
Die freche, kleine Schwindlerin hatte keine andere Wahl, als mitzukommen. »Was haben Sie denn vor? Wo gehen wir denn hin?«, wollte sie wissen. »Sie können mich nicht verhaften, ich bin schließlich noch ein Kind, verdammt noch mal!«
»Ich verhafte dich ja gar nicht«, entgegnete Bree. »Als Erstes zeigst du mir, wo du die Handtasche hingeworfen hast. Und dann kommst du mit und entschuldigst dich für das, was du getan hast. Und ich rate dir dringend, dass du deine Zunge im Zaum hältst. Keine Schimpfwörter und keine Flüche.«
46
Nana erhob sich von der Couch, als Bree mit der Räuberin im Schlepptau das Haus betrat. Anscheinend war es ihr wichtig, ihnen im Flur entgegenzutreten, aufrecht und ohne Hilfe.
»Oh, hmm, nun sieh mal einer an«, sagte sie und musterte das Mädchen von Kopf bis Fuß. »Das ist mir jetzt ein bisschen peinlich. Ich habe meiner Schwiegerenkelin nämlich gesagt, dass man vor dir Angst haben muss.« Dann richtete sie ihren gekrümmten Zeigefinger auf die verstaubte Mütze des Mädchens. »Und die da musst du absetzen, wenn du ein Haus betrittst. Sonst ist das unhöflich.«
Das Mädchen erwiderte ihren Blick mit zusammengekniffenen Augen. »Das ist doch ein Witz, oder?«, sagte sie, doch dann zog Bree ihr die Mütze ab.
Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte sie winzige Rastalöckchen auf dem Kopf, aber nur auf den ersten Blick. Wenn man genauer hinsah, dann waren es ganz normale Zöpfe, die irgendwann abgeschnitten worden waren. Vielleicht, damit sie auf der Straße mehr wie ein Junge aussieht, dachte Bree. In dem engen Flur wurde jedenfalls schnell deutlich, dass das Mädchen schon lange keine Dusche mehr genossen hatte.
»Wie heißt du?«, wollte Nana wissen.
Das Mädchen streckte ihr die braune Lederhandtasche entgegen. »Entschuldigung, okay?«, sagte sie. Es klang nicht einmal annähernd ernst gemeint.
Nana machte keine Anstalten, die Tasche zu nehmen. »Ich habe dich nicht um eine Entschuldigung gebeten. Ich habe dich gefragt, wie du heißt.«
»Ava«, stieß sie hervor. Dann legte sie die Tasche auf den unteren Pfosten des Treppengeländers und sah Bree an. »Ich habe mich doch entschuldigt, stimmt’s? Kann ich jetzt gehen?«
Aber Nana war noch nicht fertig. Sie hielt die Zügel fest in der Hand. »Verrate mir mal etwas, Ava, das ist übrigens ein wunderschöner Name. Verrate mir mal, was du dir von meinem Geld als Erstes kaufen wolltest.«
»Häh?«
»Häh ist kein Wort. Ich möchte von dir hören, warum du unbedingt meine Handtasche haben wolltest. Du hast mich ja sogar niedergeschlagen. Ich finde, ich habe ein Recht, das zu erfahren.«
Allmählich bekam Bree fast schon Mitleid mit dem Mädchen. Ava verzog keine Miene, sie war wie versteinert, aber jetzt rollte ihr links und rechts eine Träne über die Wangen. Sie war sofort mit dem Ärmel zur Stelle und
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