Alex Cross - Cold
wischte sie ab.
»Weiß nich’«, presste sie schließlich hervor.
»Tja, solange du das nicht weißt, kannst du auch nicht gehen«, erwiderte Nana.
Das Mädchen starrte sie mit offenem Mund an. »Wie bitte?«
»Das habe ich zu meinen Schülern auch immer gesagt«, fuhr Nana fort. »Weißt du, ich war früher mal Lehrerin, vor hundert Jahren oder vielleicht noch mehr. Ich habe den Eindruck, als bräuchtest du noch ein bisschen Zeit, bis dir eine bessere Antwort einfällt.«
Die Tränen liefen jetzt schneller. »Ich habe so was noch nie gemacht!«, platzte Ava heraus. »Ich schwöre!«
»Das glaube ich ihr sogar. Als ich sie entdeckt habe, da hat sie einfach auf dem Platz rumgesessen«, meinte Bree.
Nana drehte sich um und ging in die Küche.
»Komm her, Ava. Ich mache uns einen Tee mit Milch. Und wenn ich mich nicht irre, hast du gegen ein Sandwich wahrscheinlich auch nichts einzuwenden.«
Ava rührte sich nicht von der Stelle, aber Bree sah, dass sie auch nicht mehr ständig zur Haustür linste.
»Ich mag keinen Tee«, sagte sie mürrisch.
»Den, den ich mache, schon!«, erwiderte Nana und verschwand hinter der Küchentür.
47
Wenn Bree mich nicht mit einem Anruf vorgewarnt hätte, ich wäre vollkommen überrumpelt gewesen. Anscheinend hatte Nana am Nachmittag eine Streunerin aufgegabelt, und als ich am Abend, nach einem langen Tag voller bürokratischem Blödsinn, nach Hause kam, war sie immer noch da.
Als ich die Stufen zur Gartenterrasse hinaufging, hörte ich die ganze Familie reden und lachen -, aber kaum, dass ich einen Fuß in die Küche gesetzt hatte, herrschte plötzlich betretenes Schweigen. Ich kam mir vor wie in einem Western.
Jannie und Ali saßen zusammen mit dem anderen Mädchen Ava am Tisch. Sie hatten alle einen Teller mit Lasagne vor sich stehen, aber Ava war die Einzige, die gerade aß. In der Stille konnte ich den Wäschetrockner unten im Keller hören, und dann wurde mir auch klar, woher ich das alte Bob-Marley-T-Shirt kannte, das sie trug. Es war eines von den Sachen, die Damon nicht ins Internat mitgenommen hatte.
»Alex, das ist Ava«, sagte Nana. Trotz der Pflaster machte meine Großmutter keinen übermäßig mitgenommenen Eindruck. Um ehrlich zu sein, sie sah eher ein klein wenig verschlagen aus.
»Hallo, Ava«, sagte ich.
»Hallo.«
Sie hob nicht einmal den Kopf, sondern aß einfach weiter, die Ellbogen zu beiden Seiten ausgestreckt, als hätte sie Angst, dass ihr der Teller weggenommen wurde.
Jannie und Ali saßen aufrecht und gespannt wie die Flitzebogen da und warteten ab, was ich als Nächstes machen würde. Ich wusste es selbst nicht genau.
»Nana, könnte ich dich mal kurz sprechen? Im Wohnzimmer?«, sagte ich schließlich.
»Ich bin eine alte Frau, Alex.«
»Jetzt, bitte?«
Ich hielt ihr die Tür auf, und wir gingen schweigend in den vorderen Teil des Hauses. Sie ergriff als Erste das Wort.
»Das Mädchen hat kein Zuhause«, sagte sie. »Sie braucht einen Platz, wo sie schlafen kann, ohne ständig in der Angst zu leben, dass sie überfallen wird.«
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare, versuchte, alle Geduld aufzubringen, die mir am Ende dieses endlos langen Arbeitstages noch zur Verfügung stand. »Genau für solche Fälle gibt es ja das Jugendamt«, sagte ich.
»Wozu? Damit die sie in die Lagerhalle stecken können?«, erwiderte Nana und zeigte mit dem gestreckten Zeigefinger auf mich. »Ganz genau, ich weiß, wie ihr im Police Department dazu sagt, also versuch ja nicht, dich irgendwie rauszureden, Mister.«
In diesem Punkt konnte ich ihr schlecht widersprechen. Die vorübergehende Aufnahmeeinrichtung, in der Ava aller Wahrscheinlichkeit nach landen würde, war ein ziemlich trostloser Schuppen und trug wirklich den Spitznamen Die Lagerhalle.
»Das arme Ding lebt jetzt schon einen Monat lang auf der Straße«, fügte Nana hinzu.
»Sagt sie.«
»Sieh sie dir doch an! Sie ist fast so dünn wie mein kleiner Finger. Man braucht keinen Lügendetektor, um zu wissen, dass die Kleine niemanden hat, der sich um sie kümmert.«
Bree war uns gefolgt. Bis jetzt hatte sie eine Neutralität an den Tag gelegt, die jedem Schweizer zur Ehre gereicht hätte, aber nun ergriff sie das Wort.
»Falls dir das hilft, Alex, ich habe ihre Angaben überprüft, und es stimmt. Wir haben sie nach ihrer Mutter gefragt, und sie hat uns den Namen Olivia Williams genannt. Am zehnten August ist eine Olivia Williams ins Washington Hospital eingeliefert worden, tot,
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