Alex Cross - Cold
überleben.«
»Entschuldige. Ich bin bloß... bleib einfach hier sitzen.«
Bree hastete ins Badezimmer, um Verbandszeug und ein paar Waschlappen zu holen. Dabei kochte sie stumm vor sich hin. Ihr war, als stünde ihr Kopf in Flammen.
Ich bringe gleich jemanden um. Bei Gott, ich schwöre, heute muss noch einer dran glauben.
Kaum war sie wieder im Flur, setzte sie eine gleichmütige Miene auf. Sie kniete sich neben Nana und streifte ihr sanft die Haare aus der Stirn, um die Wunde zu säubern.
»Was ist denn passiert, Regina? Nun erzähl mal.«
»Nun...« Nana holte tief Luft. »Ich war gerade auf dem Rückweg aus der Apotheke da oben in der Pennsylvania Avenue. Auf Höhe der United Methodist Church, mitten auf dem Seward Square, ist es passiert. Vielleicht hätte ich ja den längeren Weg nehmen sollen, ich weiß auch nicht...«
Bree erstarrte, sodass der Waschlappen in der Luft schwebte. »Wage es ja nicht, dir auch noch selbst die Schuld daran zu geben! Seit wann ist der Seward Square mitten am Tag ein gefährliches Pflaster?«
»Seit ungefähr einer Viertelstunde«, erwiderte Nana halb scherzhaft, aber gleichzeitig den Tränen nahe. Sie warf einen Blick auf das blutverschmierte Taschentuch in ihrer Hand. »Siebzig Jahre lebe ich nun in dieser Stadt, und noch nie bin ich ausgeraubt worden. Großer Gott, ich werde langsam alt.«
Bree hätte am liebsten mitgeheult. Dieses verdammte Viertel, diese ganze verdammte Stadt. Was tat sie den Menschen an? Schweigend versorgte sie Nanas Wunden und brachte sie dann ins Wohnzimmer, damit sie sich auf die Couch legen und sich ausruhen konnte.
Genauso lautlos schlüpfte sie anschließend nach oben und holte ihre Glock 19 aus der Schatulle im Schrank.
Als sie wieder nach unten kam, hatte Nana sich aufgesetzt und starrte zum Fenster hinaus auf die Fifth Street. Eine Ausgabe von O, the Oprah Magazine, lag ungeöffnet auf ihrem Schoß.
»Ich geh mal kurz raus«, sagte Bree. »Brauchst du etwas?«
Nana musterte sie misstrauisch. »Wieso? Wo willst du denn hin?«
»Nur kurz die Straße rauf. Und jetzt sag mir mal, wie dieses Arschloch, pardon, dieser Straßenräuber ausgesehen hat.«
45
Für September war es draußen ziemlich heiß, in mehr als nur einer Hinsicht. Bree war noch nicht einmal bei der nächsten
Querstraße, da lief ihr schon der Schweiß über den Rücken. Es war wie damals an der Uni, in ihrer Zeit als Vierhundert-Meter-Läuferin, schneller als ein Mittelstreckler, aber langsamer als ein Sprinter. Sie wusste nicht genau, wie viel Strecke sie zurücklegen musste.
Oder wem sie einen Arschtritt verpassen musste.
Am südlichen Rand des Seward Square blieb sie stehen, um ein wenig zu Atem zu kommen und sich umzusehen. Die blinde Jagd, die sie hier veranstaltete, war höchstwahrscheinlich absolut sinnlos, aber sie war viel zu aufgebracht, um jetzt zu Hause zu hocken und Strafanzeige gegen unbekannt zu stellen, wie es andere Leute vielleicht gemacht hätten. Leute, die halbwegs klar im Kopf waren.
Und dann...
»Also, das kann doch wohl nicht wahr sein.«
Da saß sie, die Räuberin, ganz gemütlich im Schatten eines alten Kirschbaums mitten auf dem Platz. Hatte nicht einmal so viel Verstand, sich aus dem Staub zu machen.
Das musste sie sein. Nana hatte sie ziemlich eindeutig beschrieben, rotes Hollister-Kapuzenshirt, braune, knielange Jeans, schmutzig-weiße Baseballmütze und eine lächerliche Plastiksonnenbrille mit weißem Gestell, die viel zu riesig war, um nicht hundertprozentig gestohlen zu sein.
Super Tarnung, kleines Mädchen.
Sie sah wirklich durch und durch bescheuert aus, aber immerhin war sie so schlau, um bei Brees Anblick, der man von Weitem ansehen konnte, was sie vorhatte sofort aufzuspringen und Fersengeld zu geben. Auf langen, dünnen Beinen rannte sie die Pennsylvania entlang in Richtung Capitol Hill.
Schnell war sie auch. Aber vermutlich hatte sie bis jetzt noch nie an einer Studenten-Leichtathletikmeisterschaft teilgenommen. Oder?
Auf gerader Strecke brauchte Bree keinen halben Häuserblock, um auf Armeslänge an sie heranzukommen. Sie packte das Mädchen an der Kapuze, blieb ruckartig stehen und riss sie praktisch von den Beinen.
Die kleine Diebin mit den viel zu weiten Kleidern wog so gut wie nichts. Und ihre Größe war irreführend. Aus der Nähe sah sie sogar jünger aus als Jannie. Sie war vielleicht zwölf, maximal dreizehn Jahre alt.
»Lass mich los!«, schrie sie und versuchte mit allen Mitteln, sich zu befreien.
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