Alex Cross - Cold
sagte ich. »Das mit dem Essen spielt keine Rolle. Das mit dem Fenster auch nicht. Das ist alles überhaupt nicht schlimm. Wir finden für alles eine Lösung.«
Trotzdem versuchte Ava noch einmal, sich loszumachen, wollte zur Tür. Sie stand auf, aber Nana zog sie wieder zurück. Manchmal entwickelte sie wirklich unvorstellbare Kräfte.
»Du setzt dich jetzt hin, auf der Stelle«, befahl sie. »Du gehst jetzt nirgendwo mehr hin, junge Dame.«
Ich blieb stehen und rührte mich nicht von der Stelle, damit sie sich nicht allzu sehr bedrängt fühlte. »Weißt du was, Ava?«, sagte ich. »Nana hat recht. Wir müssen das heute überhaupt nicht entscheiden.«
Was, ehrlich gesagt, nicht ganz der Wahrheit entsprach. Denn ich hatte bereits eine Entscheidung getroffen.
Nana hatte wirklich recht. Vielleicht konnten wir nicht jedes Kind retten, das sich auf den Straßen von Washington herumtrieb, aber es gab keinen Grund, keinen stichhaltigen Grund, warum wir diesem einen nicht helfen sollten. Hier und jetzt. Und wenn es nur für eine kleine Weile war.
Ich würde morgen früh alle notwendigen Telefonate führen. Das Verfahren so schnell wie möglich anschieben. Wenn nötig ein paar Beziehungen spielen lassen. Um das Leben dieses jungen Mädchens ein kleines bisschen besser zu machen.
»Bleib einfach hier«, sagte ich. »Bitte.«
53
Am nächsten Morgen überließ ich Bree die Verantwortung und kehrte zu meiner Arbeit zurück. Ich hatte keine Ahnung, was die First Lady in meinem Namen unternommen hatte, aber jedenfalls gelangte ich ohne Mühe auf das Gelände der Branaff School. Dieses Mal sogar innerhalb der Tore.
Da ich ein besseres Gefühl für die Örtlichkeiten bekommen wollte, war ich schon vor Schulbeginn da. Ich wollte, so gut es ging, jeden einzelnen Schritt nachvollziehen, den Ethan und Zoe am Morgen ihres Verschwindens gemacht hatten.
Als ich die breite Auffahrt zum Branaff House entlangkam, einer mächtigen Villa im klassizistischen Stil, die der Schule als Hauptgebäude diente, musste ich unwillkürlich an die bescheidene Förderschule denken, die John und Billie Sampson nur wenige Kilometer entfernt auf die Beine zu stellen versuchten. Dazwischen lagen Welten. Branaff House war so etwas wie das Kronjuwel eines zweiunddreißig Hektar großen Schulgeländes und strahlte ausreichend sorgfältig restaurierte Schönheit aus, damit manche Eltern sich überzeugen ließen, fünfundvierzigtausend Dollar Schulgeld im Jahr lockerzumachen.
Es war auch der Ort, wo die Coyle-Kinder zuletzt gesehen worden waren. Was war mit ihnen geschehen?
Ich fing in der großen Eingangshalle an. Dort war es, mehreren Berichten zufolge, an diesem Morgen zum Streit zwischen Zoe und Ryan Townsend gekommen.
Der Streit hatte nicht lange gedauert, weil der Secret-Service-Agent Findlay die Streithähne getrennt und die beiden Coyles in die angrenzende Aula gebracht hatte.
Um 8.22 Uhr hatte Findlay seinem Team per Funk mitgeteilt, dass er den beiden Kindern zwei Minuten unter vier Augen gestattet hatte.
Um 8.24 Uhr hatte er die Aula-Tür geöffnet und festgestellt, dass der Saal leer war.
Rund neunzig Sekunden später war der Lieferwagen mit Ray Pinkney am Steuer durch das Osttor davongerast ohne Ethan und Zoe, wie sich bald herausgestellt hatte.
Damit ergab sich ein Zeitfenster von dreieinhalb Minuten zwischen dem Zeitpunkt, als Findlay die Kinder zum letzten Mal gesehen hatte, und dem Moment, als der Lieferwagen vom Schulgelände gerast war.
Irgendwann dazwischen hatte eine Entführung stattgefunden.
Was also war in diesen dreieinhalb Minuten geschehen?
Ich betrat die Aula und zog die Tür hinter mir ins Schloss.
Es war ein hoher Raum mit etlichen Porträtgemälden an der Wand. Die Abgebildeten blickten allesamt sehr streng und ernst drein. Es war, ehrlich gesagt, ein bisschen unheimlich, aber auf jeden Fall sehr beeindruckend. Sogar ich kam mir hier ziemlich klein vor.
Was immer sich in diesem Raum abgespielt haben mochte, Zoe und Ethan konnten nicht lange hier gewesen sein. Dreieinhalb Minuten, keine Sekunde länger, ganz egal, ob sie sich dessen bewusst gewesen waren oder nicht.
Die Aula besaß zwei Vordertüren, die beide im Blickfeld einer Überwachungskamera im Flur lagen. Ansonsten gab es nur noch die Möglichkeit, durch eines der fünf Fenster auf der Rückseite zu klettern.
Den Berichten zufolge hatte Agent Findlay das mittlere Fenster unverschlossen vorgefunden. Ich stellte mich davor.
Ich hüpfte auf den
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