Alex Cross - Cold
die Couch.
»Wie heißt das Zauberwort?«, sagte Bree und gab mir einen flüchtigen Wangenkuss. Dann noch einen. Sie roch gut und fühlte sich noch besser an. Sie fehlte mir.
»Alles Mist«, sagte ich schließlich. Mahoneys Angebot ging mir einfach nicht aus dem Kopf, aber jetzt war weder die Zeit noch der Ort, um darüber zu reden. Ich war zu Hause.
Ich schnappte mir eine zerfledderte Taschenbuch-Ausgabe von Precious Das Leben ist schön, die irgendjemand auf den Boden geworfen hatte. Es war das Buch zum Film, und auf dem Deckblatt war die wunderbare Schauspielerin Gabourey Sidibe abgebildet.
»Muss Jannie das für die Schule lesen?«, erkundigte ich mich. »Das ist ja harter Stoff. Aber gut.«
»Ich muss gestehen, das habe ich für Ava besorgt«, sagte Nana. »Ich finde, sie braucht etwas Handfesteres als diese Comics, die sie bis jetzt verschlungen hat.«
»Wo wir gerade von Ava sprechen«, meinte Bree. »Heute hat das Jugendamt angerufen. Sie wollten sich bloß mal erkundigen, wie es so läuft.«
»Ich schätze, das heißt, dass sie noch keine Pflegefamilie gefunden haben«, sagte ich und schob mir eine Gabel mit Hackbraten und Süßkartoffeln in den Mund.
»Ich glaube eigentlich eher, sie hoffen, dass sie eine gefunden haben«, erwiderte Bree. »Sie sind der Meinung, dass Ava dort gut hineinpassen würde.«
Ich hob den Blick und sah, dass beide Frauen mich anstarrten.
»Jetzt tu doch nicht so verdutzt, Alex«, sagte Nana. »Du hast doch gewusst, dass dem Jugendamt diese Lösung am liebsten wäre.«
»Kann ja sein«, entgegnete ich. »Trotzdem müssen wir Ava möglichst bald in eine richtige Pflegefamilie geben, bevor sie sich zu sehr an uns gewöhnt. Oder Bindungen aufbaut.«
Nana warf das Flugblatt und den Briefumschlag, die sie gerade in der Hand hielt, auf den Tisch. »Also, das ist ja wieder mal typisch!«
»Was denn?«
»Offensichtlich haben alle bis auf dich mittlerweile mitbekommen, dass Ava sich bereits an uns gebunden hat«, machte sie mir klar. »Und die meisten von uns haben auch eine Bindung zu ihr aufgebaut.«
Ich stellte den Teller ab und rieb mir die Augen. Eine Predigt von meiner Großmutter war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte. Oder gar einen Streit. Ich war zu Hause.
»Nana, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlecht mir das im Moment in den Kram passt.«
»Na und, Alex? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wenig mich das im Moment interessiert. Was meinst du, woran könnte es liegen, dass Ava dich nie anlächelt? Oder dass sie aufhört zu reden, wenn du ins Zimmer kommst? Weil du nie da bist! Glaubst du eigentlich, sie ist zu allen so?«
»Entschuldige mal, aber ich versuche gerade, zwei entführte Kinder zu ihren Eltern zurückzubringen«, sagte ich. Ich konnte mich wirklich nur unter Aufbietung aller Kräfte beherrschen.
»Na klar, weil es sonst niemand macht. Entschuldige ebenfalls, aber im Augenblick sind Tausende, Tausende von Leuten mit der Suche nach den Coyle-Kindern beschäftigt. Und Ava? Wen hat sie schon außer uns?«
»Das ist nicht fair«, verteidigte ich mich.
»Dann sag mir Bescheid, sobald es immer und überall fair zugeht.«
Sie schnappte sich das Buch von meinem Schoß, als wollte sie verhindern, dass ich es überhaupt anfasste, und ging hinaus. Eine Sekunde später wurde die Kellertür aufgemacht.
»Wer hat Lust auf ein bisschen Eis?«, rief sie, als wäre alles in bester Ordnung. Eine kleine Armee trampelte die Treppe herauf. »Es gibt Chunky Monkey, Mint Chocolate Chunk, Cookie Dough...«
Ich holte tief Luft. Und dann gleich noch einmal. »Toller Tag«, sagte ich.
Bree schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. Ich spürte, auf wessen Seite sie stand, aber sie würde mich nicht auch noch in die Mangel nehmen. Nicht sofort wenigstens.
»Na, komm schon, du Held«, sagte sie. »Besorgen wir dir eine Portion Mint Chocolate Chunk. Du hast es dir verdient.«
97
Schlaf kam heute Abend offensichtlich nicht infrage. Bree hatte schon wieder Nachtschicht, und das Bett kam mir viel zu groß vor. Ich war alleine mit meinen Gedanken. Unter anderem über die arme Ava.
Immer, wenn ich die Augen zumachte, sah ich die schmutzigen, ausgemergelten Gesichter von Ethan und Zoe vor mir. Und jedes Mal, wenn ich sie aufschlug, musste ich daran denken, was Ned Mahoney nach meiner Begegnung mit Glass zu mir gesagt hatte. Beziehungsweise, was er nicht gesagt hatte. Ich merkte, wie der Gedanke sich langsam in mir breitmachte, wie ein dicker
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