Alex Rider 5: Scorpia: Alex Riders fünfter Fall
Felsens.
»Genau Dreihundertsiebenundfünfzig Meter«, sagte er. Er nahm ein laminiertes Kärtche n – eine sogenannte Fallhöhentabell e –, warf einen Blick darauf und sagte: »Vier Sekunden. Dann schwebst du noch etwa fünfzehn Sekunden am Fallschirm. Sechs sind das Äußerste. Aber dann landest du praktisch unmittelbar danach.«
Alex verstand, was er meinte. Er durfte vier bis höchstens sechs Sekunden im freien Fall verbringen. Je kürzer er am Fallschirm hing, desto kleiner die Gefahr, dass er von unten entdeckt wurde. Andererseits: Je schneller er unten ankam, desto größer die Gefahr, dass er sich sämtliche Knochen brach.
»Und wenn du runterkommst, vergiss nich t …«
»Zu bremsen.«
»Richtig. Wenn du dir nicht die Beine brechen willst, musst du drei bis vier Sekunden vor der Landung bremsen.«
»Nicht drei bis vier Sekunden nach der Landung«, erklärte Tom. »Das wäre zu spät.«
»Danke für den Hinweis.«
Alex sah sich um. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Irgendwie wünschte er, es käme ein Polizist oder irgendjemand aus der Villa vorbei und würde ihn davon abhalten, diesen wahnsinnigen Sprung zu machen. Aber in dem Garten war niemand. Die weißen Marmorköpfe neben ihm starrten vollkommen uninteressiert ins Leere.
»Du beschleunigst in drei Sekunden von null auf neunzig Stundenkilometer«, fuhr Jerry fort. »Die Ausrüstung ist auf dem neuesten Stand, aber den Ruck beim Aufgehen des Schirms wirst du trotzdem spüren. Und der erinnert dich auch daran, dass du gleich landen wirst. Dann musst du Füße und Knie zusammendrücken. Das Kinn auf die Brust legen. Und aufpassen, dass du dir nicht die Zunge abbeißt. Mir ist das beim ersten Mal beinahe passiert.«
»Ja.« Mehr als einzelne Worte bekam Alex kaum noch heraus.
Jerry blickte den Steilhang hinunter. »Das Dach von Consanto ist genau unter uns und wir haben keinen Wind. Zum Lenken wirst du nicht viel Zeit haben, aber du kannst versuchen, an den Steuerschlaufen zu ziehen.« Er legte Alex eine Hand auf die Schulter. »Wenn du willst, springe ich an deiner Stelle.«
»Nein.« Alex schüttelte den Kopf. »Danke, Jerry. Aber das muss ich schon selber machen. Schließlich war es meine Ide e …«
»Viel Glück.«
»Hals- und Beinbruch!«, rief Tom. »Oder nein, lieber nicht.«
Alex schob sich zwischen zwei Statuen an die Brüstung und sah hinunter. Er stand genau über dem Hauptgebäude von Consanto, das aus dieser Höhe so klein aussah wie ein silberner Legostein. Die meisten Angestellten mussten inzwischen gegangen sein, aber die Wachposten waren natürlich noch da. Er konnte nur hoffen, dass in den wenigen Sekunden bis zur Landung keiner von ihnen nach oben blickte. Aber wie er vorhin vor dem Tor schon registriert hatte: Consanto lag zum Meer hinaus, Straße und Eingang waren ebenfalls auf dieser Seite. Die Aufmerksamkeit der Leute war also immer aufs Wasser gerichtet und nicht auf die Felswand hinter dem Gebäude. Mit etwas Glück würde seine Landung auf dem Dach unbemerkt bleiben.
Alex’ Magen zog sich zusammen. Er hatte kein Gefühl mehr in den Beinen, glaubte beinahe zu schweben. Als er tief einatmen wollte, schien die Luft in seiner Kehle stecken zu bleiben. Lag ihm wirklich so viel daran, in Consanto einzudringen und herauszufinden, was dieses Unternehmen mit Scorpia zu tun haben könnte? Was würden Tom und sein Bruder sagen, wenn er es sich jetzt in allerletzter Minute anders überlegen würde?
Stell dich nicht so an, dachte er. BASE-Jumping ist doch nichts Besonderes, viele machen das, auch Jugendliche. Jerry war erst kürzlich von der New-River-George-Brücke in West-Virginia gesprungen, an dem einen Tag im Jahr, an dem dieser Sprung in Amerika erlaubt ist; und er hatte erzählt, dass da jede Menge Kids mitgemacht hätten. Das war ein Sport. Mehr nicht. Die Leute machten das zum Spaß. Und wenn Alex noch eine Sekunde länger zögerte, würde er es niemals machen. Er hatte gar keine andere Wahl.
Alex schwang sich auf die Brüstung, prüfte noch einmal den Hilfsschirm, fasste ein letztes Mal sein Ziel ins Auge und sprang.
Es war wie Selbstmord.
Es war wie nichts, was er jemals erlebt hatte.
Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Der Himmel, die Felskante und (falls er sich das nicht einbildete) Toms fassungslose Miene. Dann kippte all das weg. Das Blau wurde grau und das Weiß des Daches stürzte auf ihn zu. Der Wind hämmerte ihm ins Gesicht. Die enorme Beschleunigung drückte ihm die Augen in die
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