Alex Rider 5: Scorpia: Alex Riders fünfter Fall
Turm gab es nur einen leeren Raum mit kahlen Wänden. Die Luft war feucht und muffig, das ganze Bauwerk musste schon vor Jahren aufgegeben worden sein. Die Glocken waren entweder gestohlen oder irgendwann heruntergefallen und dann weggeschafft worden. Eine steinerne Wendeltreppe führte nach oben, kleine Fenster sorgten für ein wenig Licht. Der Turm wurde gelegentlich für Tarnübungen benutzt, wenn die Schüler von einer Seite der Insel zur anderen schleichen sollten. Als Ausguck war der Turm bestens geeignet.
Die Tür nach draußen war nicht verschlossen. Sie führte auf eine quadratische, etwa zehn mal zehn Meter große Plattform unter freiem Himmel. Früher mochte hier einmal ein Geländer für Sicherheit gesorgt haben, aber das war inzwischen verschwunden. Wenn Alex nur noch drei Schritte machte, würde er ins Nichts trete n – und tödlich abstürzen.
Vorsichtig näherte er sich dem Rand und blickte hinunter. Er stand genau über dem Klosterhof und konnte das Makiwara sehen, das man dort am Nachmittag aufgestellt hatte: ein starker Pfahl, der in Kopfhöhe dick mit Leder gepolstert war und als Trainingsgerät beim Kickboxen und Karate diente. Der Hof war menschenleer. Der Unterricht war für heute beendet, und die anderen Schüler ruhten sich vor dem Abendessen aus.
Der Wald jenseits der Klostermauern war schon dunkel. Die Sonne versank im Meer und goss ihr letztes Licht über das schwarze Wasser. In der Ferne blinkten die Lichter von Venedig. Was spielte sich wohl jetzt dort ab? Touristen verließen ihre Hotels und zogen durch die Restaurants und Bars. In der einen oder anderen Kirche fanden Konzerte statt. Die Gondolieri machten ihre Boote fest. Bis zum Winter dauerte es noch eine Weile, aber den meisten Leuten war es schon zu kalt für eine abendliche Fahrt mit der Gondel. Alex fand es immer noch unglaublich, dass diese Insel mit all ihren Geheimnissen so nahe an einem der beliebtesten Touristenziele Europas existieren konnte. Zwei Welten. Seite an Seite. Aber die eine dieser Welten wusste nicht das Geringste von der Existenz der anderen.
Alex stand reglos da und spürte den Abendwind in den Haaren. Er trug nur Jeans und ein langärmeliges Hemd und begann zu frösteln. Aber irgendwie schien das alles weit weg. Es war, als sei er ein Teil des Turms geworde n – eine Statue oder ein Wasserspeier. Er war auf Malagosto, weil nirgendwo anders mehr Platz für ihn war.
Er dachte an die letzten Wochen. Wie lange war er schon auf der Insel? Er hatte keine Ahnung. Im Prinzip war es hier wie in seiner Schule. Es gab Lehrer und Klassenzimmer und Einzelunterricht und die Tage verschwammen ineinander. Nur die Fächer hier unterschieden sich vollständig von denen, die auf Brookland unterrichtet wurden.
Zum Beispiel Geschichte, unterrichtet von Gordon Ross. Aber in seiner Darstellung von Geschichte ging es nicht um Könige und Königinnen, Schlachten und Verträge. Ross beschäftigte sich ausschließlich mit der Geschichte von Waffen.
»Das hier ist das zweischneidige Kommandomesser, entwickelt im Zweiten Weltkrieg von Fairbairn und Sykes. Der eine war Spezialist für lautloses Töten, der andere ein Meisterschütze mit dem Gewehr. Ist es nicht wunderschön? Die Klinge ist neunzehn Zentimeter lang und weist beidseitig eine Erhöhung in der Längsachse auf. Es liegt außerordentlich gut in der Hand. Alex, für dich ist es vielleicht noch etwas zu groß, weil du noch nicht ausgewachsen bist. Auf jeden Fall ist das die großartigste Mordwaffe, die jemals erfunden wurde. Schusswaffen machen viel Lärm und können Ladehemmungen haben. Das Kommandomesser hingegen ist ein treuer Freund. Es ist absolut zuverlässig und lässt einen niemals im Stich.«
Dann gab es praktischen Unterricht bei Professor Yermalow. Wie Nile gesagt hatte, war er von allen auf Malagosto der Unfreundlichste: ein schweigsamer, finsterer Mann in den Fünfzigern, der wenig Zeit für seine Schüler hatte. Alex fand schnell heraus, warum. Yermalow kam aus Tschetschenien und hatte im Krieg mit Russland seine gesamte Familie verloren.
»Heute zeige ich Ihnen, wie man sich unsichtbar macht«, sagte er trocken.
Alex konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken.
Yermalow bemerkte es. »Du meinst wohl, ich scherze, Rider? Du meinst wohl, ich erzähle Kindermärchen? Das Märchen von der Tarnkappe vielleicht? Du irrst dich. Ich lehre euch die Kunst der Ninjas, der besten Spione, die es je gegeben hat. Die Ninja-Killer im feudalistischen Japan hatten
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