Alexa, die Amazone – Die große Chance
besser, stellt Alexa fest, doch Genugtuung verschafft ihr das nicht. Durch das tiefe Bücken ständig spürt sie ihren Rücken schon kaum mehr. Etwas verfängt sich in ihrem T-Shirt. Bevor sie es überhaupt richtig registrieren kann, ist Simone schon einen Schritt weiter und es gibt ein hässliches Geräusch. Ratsch! Nun ist auch noch das T-Shirt zerrissen.
»Geht’s nicht schneller?« Ihre Stimme hat durch die Anstrengung einen anderen Klang bekommen. Flavio gibt keine Antwort. Sein Atem geht stoßweise und seine Arme fühlen sich bleischwer an. Weiter, sagt er sich immer wieder, nur weiter!
»Verdammt aber auch!«, entfährt es Alexa. Ein junger Zweig hat sich schmerzhaft in ihr zerzaustes Haar gebohrt. Er bricht nicht ab, sondern reißt ihr beim nächsten Schritt ein Büschel Haare heraus. Es hämmert in ihrem Kopf. »Wir kommen zu spät!«
»Kannst ja vorausreiten ...«, sagt der dunkle Schatten vor ihr.
Alexa fühlt sich grauenhaft machtlos. Sie schmiegt ihren Kopf an Simones Hals. Das Fell ist klebrig verschwitzt. Aber die regelmäßigen und kräftigen Bewegungen der Stute beruhigen Alexas Nerven.
»Es wird alles gut«, flüstert sie. »Du wirst sehen, Simone, es wird gut!«
»Duck dich«, warnt Flavio. Alexa macht sich ganz klein. Ein dicker Ast touchiert sie leicht am Rücken.
»Danke«, murmelt sie und versucht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Zwecklos. Selbst die Hunde sind wie unsichtbar.
Eintöniges Knacken der Äste und Zweige. Alexa schätzt, dass sie sich seit gut einer halben Stunde so durch den Wald quälen. Bisher sind sie auf keinen begehbaren Weg gestoßen und der Boden führt weiterhin bergauf. Alexa hat Simone längst die Zügel hingegeben und die Stute läuft hautnah hinter Lucifer her, die Nase dicht an seinem Schweif. Alexa glaubt immer weniger, dass Flavios Entscheidung die richtige war. Trotzdem fürchtet sie den Augenblick, da Flavio die Sache für hoffnungslos erklärt und sie umkehren müssen. Es graut ihr aber auch bei dem Gedanken an das Wiedersehen mit Kurt. Wenn ihm wirklich etwas passiert ist, kann sie ihm nicht mehr in die Augen schauen. Alexa beißt die Zähne zusammen. Die Vorstellung, sie könne doch an allem schuld sein, erdrückt sie fast.
Da merkt sie an Simones vorsichtigem Auftreten, dass sich der Boden verändert haben muss. Tatsächlich, jetzt geht es bergab.
»Flavio, wir schaffen’s«, jubelt sie und in einem ersten Anflug von Dankbarkeit hätte sie ihn umarmen mögen. Von jetzt an muss es schnell gehen.
»Nur langsam!«, Flavios kurze Bemerkung erstickt Alexas aufflammende Begeisterung. Er hat recht, wir sind noch nicht unten. Kurt, Kurt, beschwört sie das Phantombild vor ihren Augen, halt durch, wir kommen! Bitte, Onkel Kurt, halte durch!
Es wird steil. Sie versucht, Simone mit ihrem Gewicht so wenig wie möglich zu behindern, damit die Stute auf jeden Fall ihre Hinterhand voll einsetzen kann. Aus dem Rascheln und dem häufigen Ausgleiten ihrer Vorderhufe schließt Alexa, dass der Boden aus feuchten Blättern bestehen muss. Der Wald lichtet sich und Laubbäume mischen sich unter die Tannen. Es wird etwas heller. Plötzlich rutschen Simones Vorderbeine aus. Wild mit dem Hals rudernd versucht sie das Gleichgewicht wiederzufinden. Sie setzt die Hinterbeine schnell nach und fängt sich in letzter Sekunde. Alexa hat vor Schreck die Luft angehalten und atmet jetzt auf. Doch sie traut den Bodenverhältnissen nun nicht mehr. Sie fühlt sich wie auf Glatteis und wäre am liebsten abgesessen.
»Flavio, es ist zu steil.«
»Ich weiß ...«
»Wäre absitzen nicht besser?«
»Keine Zeit!«
»Wenn jetzt aber was passiert?«
»Passiert schon nichts!«
»Siehst du was?«
»Kaum!«
Simone hat zunehmend Schwierigkeiten mit dem Untergrund. Alexa sitzt wie auf rohen Eiern. Sie bildet sich ein, Simones Beine könnten jeden Moment in sämtliche vier Richtungen auseinanderrutschen. Zu ihrer Angst um Kurt kommt nun auch noch ein flaues Gefühl in der Magengrube. Alexa hält die Stute etwas zurück. Falls sie wirklich ausgleitet, möchte sie nicht auch noch in Flavio und Lucifer hineinsausen. Der Steilhang nimmt kein Ende. So gesehen müssten sie, mit dem Aufstieg verglichen, in der halben Zeit unten sein. Allerdings hat sie nun jedes Zeitgefühl verloren. Es kommt ihr vor, als irrten sie seit Stunden durch den Wald.
Ein raschelndes Geräusch und heftige Bewegungen vor ihr reißen sie aus ihren Gedanken.
»Flavio«, entfährt es ihr. Sie sitzt wie erstarrt.
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