Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Schlange?–, und das kleine Tier huschte unter einen Strauch mit giftroten Beeren.
Mylleas, Pantaleon und Amphoteros, der jüngere Bruder von Krateros, rührten Farben an; in den vergangenen Tagen hatten sie unter Leitung eines hellenischen Sklaven weite Ausflüge gemacht, um in zwei Tälern, wo nach den Regenfällen des Winters Erdrutsche tiefere Bodenschichten freigelegt hatten, die Zutaten zu suchen. Mit Kalk, geronnener Milch und dem Abrieb von rostigen Eisenstäben vermengt, sollten die zu Pulver zerstoßenen Erden Farben ergeben, hatte jedenfalls der Sklave behauptet. Im Moment ergab alles nur ein fröhliches Gemansche in alten Tontöpfen. Aristoteles hatte die hellen, geschlämmten Flächen des Schlafgebäudes für Malversuche freigegeben.
Sechs oder sieben nackte Morgenläufer, unter ihnen Ptolemaios, Seleukos und Hephaistion, kamen erhitzt und prustend aus dem Wald zurück und rannten zur Zisterne. Marsyas erwischte als erster den großen Bronzetopf, tauchte ihn ein, drehte sich um, begoß die anderen Schwall um Schwall. Triefend und glänzend liefen sie über den Platz und verschwanden im Schlafgebäude. Hephaistion kam sofort wieder zurück; in der linken Hand hielt er einen hellen Leinenschurz. Er näherte sich dem Brunnen, blieb hinter Alexander stehen, leicht gebückt, legte ihm die Rechte auf die Schulter und beobachtete das feine Messerwerk des Ägypters. Plötzlich räusperte er sich, wurde ein wenig rot, hielt sich den Schurz vor den Leib, wandte sich ab und zog das vernähte Leinen an. Alexanders Mundwinkel stiegen unmerklich; dann wischte er mit der Hand das Lächeln fort.
Nach dem kargen Frühstück– Wasser, Brot, Oliven, Feigen–, das sie mit den Lehrern am großen Tisch im Eßraum zu sich nahmen, wechselte Aristoteles ein paar Worte mit seiner hübschen, dunkelhaarigen Frau. Pythias war fünfzehn Jahre jünger als er; wenn sie über den Platz oder durch die Gänge schritt, hing immer mindestens die Hälfte aller Schüleraugen an ihr. Sie lächelte, zupfte an ihrem langen, hellen Gewand, das bis auf die bloßen Knöchel fiel; dann beugte sie sich vor und sagte leise etwas. Aristoteles blinzelte, lachte schallend, nickte und stand auf.
» An die Arbeit, Fürstensöhne!« Er blickte sie der Reihe nach an. » Heute kommen die Kämpfer aus Beroia zurück; morgen seid ihr dran. Wir wollen sehen, daß wir die begonnenen Dinge vollenden. Ehe ihr alles vergeßt. Die Blonden zu mir, die Dunklen zu Kallisthenes.«
Alexander, Hephaistion, Attalos, Kassandros, Neoptolemos und Mylleas folgen dem Philosophen in die kleine Wandelhalle, während die übrigen ihr Schreibzeug holten, um sich von Kallisthenes am Eßtisch in die Geheimnisse der attischen Kurzschrift einweihen zu lassen.
» Der Begriff der Freiheit«, sagte Aristoteles. » Gestern sprachen wir davon, daß Freiheit von etwas weniger wichtig ist als Freiheit für etwas. Kassandros.«
Der Sohn des Antipatros starrte auf seine Zehen. Sein muskulöser Oberschenkel zuckte. Er stand auf einer bläulichen Platte nahe der Westseite des unbedachten Teils; zur Hälfte lag sie noch im Schatten. Er schob den Fuß vor, bis die Zehen im scharfen Schatten des östlichen Daches verschwanden.
» Sehr gut; zum Beispiel deine Zehen.« Aristoteles verzog keine Miene. » Wenn sie gefesselt sind, etwa von einem straffen Tuch, sind sie unbeweglich, und du wirst Probleme bei Laufen haben. Wenn sie frei sind von dir und deinen Füßen, mußt du leiden, und deine Zehen sterben, nützen also weder dir noch sich. Die Freiheit für die Bewegung bei fortdauernder Unfreiheit vom Fuß…«
Alexander gluckste leise. » Ist denn nicht Freiheit nur Trug, Aristoteles? Kassandros nutzt die Freiheit, seinen Geist schlummern zu lassen, während sich seine Muskeln bewegen. Ist das seine Entscheidung, oder zwingt etwas ihn dazu?«
Kassandros warf ihm einen düsteren Blick zu.
» Was ist Freiheit anders als freundlicher Trug?« Aristoteles klopfte an die Säule, neben der er stand. » Wenn wir sagen, Säule ist nur das, was in bestimmter Weise geformt ist, fest an einer Stelle steht, vielleicht etwas trägt, dann binden wir die Säule nicht nur in ein Netz von Wörtern, sondern in ein System von Bezügen und Zwecken ein. Wenn die Säule nichts trüge, wenn sie frei im Wald stünde, ohne Sockel, locker auf dem Waldboden, etwa auf einer Moosschicht, wäre sie dann noch eine Säule?«
Hephaistion fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Nase. » Ist denn ein Koch nur dann ein
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