Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Vertragsrecht. Alle hellenische Dichtung. Redekunst; die Bedeutung der einzelnen Töne, Lautstärken, der langen und kurzen Silben für das Gemüt des Zuhörers, den man beeinflussen will. Es ist immer theoretisch und praktisch zugleich. Orakel, Vogelschau, Eingeweide; Heilkunst; Heilpflanzen; die strategische Bedeutung von Sonne, Wind, Boden und Nahrung bei der Planung einer Schlacht. Musik. Schauspiel. Was immer dir einfällt, es ist alles da.«
Drakons Zähne blitzten im Sternenlicht. » Ich habe nichts anderes erwartet. Achten sie ihn? Oder gehorchen sie ihm nur, weil Antipatros es befohlen hat?«
Kleitos beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. » Sie verehren ihn. Er weiß mehr über Heilpflanzen und Knochenbrüche als der Arzt Philippos, und der ist nicht schlecht. Als ein großartiger Kithara-Spieler bei ihnen war, hat Aristoteles mit ihm über Harmonie und Tongeschlechter geredet, bis der Musiker aufgab. Wenn Aischrion, der Dichter aus Mytilene, mit ihnen Verse untersucht oder sie eigene Verse schreiben läßt, kann Aristoteles sie nach einmaligem Anhören sofort aufsagen und verbessern. Stroibos arbeitet mit ihnen an der Lesbarkeit und Richtigkeit ihres Schreibens, aber Aristoteles schreibt schneller, und seine Kalligraphie ist beeindruckend. Kallisthenes, sein Neffe, hat eine ätzende Zunge; neulich abends, als ich oben war, haben er und Aristoteles aus dem Stegreif eine komödiantische Beschimpfung aufgeführt, die selbst Aristophanes zu Jubel hingerissen haben würde. Kallisthenes hat irgendwann aufgegeben, weil Aristoteles auch dies besser kann. Noch wichtiger ist vielleicht etwas anderes.«
Da er nicht weitersprach, wartete Drakon stumm ab.
» Die Sprache.« Kleitos schüttelte den Kopf. » Attisch, natürlich. Vom Morgen bis zum Abend. Erigyios– ah, den kennst du nicht, ein Junge aus Amphipolis; ich glaube, der Vater kommt ursprünglich aus Mytilene. Sein Bruder ist auch hier, heißt Laomedon; beides helle Köpfe und gute Freunde für Alexander. Jedenfalls, Erigyios hat mir das erzählt, vor ein paar Tagen, als ich die Gruppe hier hatte und mit stumpfen Lanzen gegen erfahrene Hopliten geschickt habe. Einer der Männer hat einen ziemlich scheußlichen Fluch losgelassen; da fängt Erigyios an zu lachen und erzählt, so ähnlich hätten neulich Krateros und Perdikkas auch geredet, als Aristoteles die Jungs nachts geweckt hat, um ihnen ein bestimmtes Sternbild zu zeigen. Kehliges Makedonisch, irgendwas wie: › Warum kann einen dieser blötschköpfige Hurensohn von Flachlandhellene nicht in Ruhe ratzen lassen‹, und ob man sich wegen dieser Himmelsfunzeln derart bepissen muß. Haben natürlich gemeint, der versteht den Dialekt nicht. Er hatte wohl auch bis dahin, wenn die untereinander Heimlichkeiten auf Makedonisch ausgetauscht haben, nie was gesagt.«
Drakon grinste. » Und?«
» Aristoteles, ganz kühl, in breitem Obermakedonisch: › Anders als ihr zwei verlausten Schorfschwänze und Bettnässer will ich klüger sterben als mein Arsch. Setzt euch in Bewegung.‹ Und dann ist er mit den beiden bis zum übernächsten Morgen, bis die Jungs umgefallen sind, durch den Wald marschiert und hat ihnen Flüche, Beschimpfungen und die Namen der Sternbilder in allen hellenischen Dialekten beigebracht, von Syrakus bis Naukratis und rauf nach Byzantion.«
Der alte Ägypter, Freund, aber Sklave von Aristoteles, hockte auf der Brunnenumrandung, die dürren Spinnenbeine übereinandergeschlagen. Es war noch früh, kurz nach Sonnenaufgang, aber schon fast heiß. Unter dem scharfen kleinen Messer verwandelte sich die dicke Eichenwurzel in ein getreues Abbild des Nearchos, samt Hakennase und spitzem Kinn. Der Junge aus Amphipolis, Sohn eines reichen kretischen Händlers und Philipp-Freundes, saß neben Alexander auf dem Boden und sah zu. Späne rieselten auf die Steine und Flechten. Der Ägypter trug nur einen langen Lederschurz; einen Lappen hatte er über den linken Oberschenkel gezogen und stemmte das Holz darauf. Er wirkte ausgemergelt: der Hals zu dünn für den Kopf, die von der Haut mühsam zusammengehaltenen Rippen, die Unterarme, die man scheinbar mit einer Hand zerbrechen konnte, die dürren, erschreckend beweglichen Finger. Von der Schneide des Messers blitzten Strahlen der Sonne, die halbhoch über den Tälern gegenüber stand. Eine graubraune Maus hatte am Rand des freien Platzes zugeschaut, auf den Hinterbeinen hockend; irgendwo im Gestrüpp raschelte es– ein Wiesel, eine
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