Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Mieza, habe ich sie als Teile eines Gefüges erzogen, als Gleiche, damit sie lernen, miteinander und mit anderen zu leben. Rücksicht, Einpassung, all diese Dinge. Keiner hat Herausragendes getan; es war auch nicht nötig. Keiner hat auffällige Eigenschaften entwickelt, weil ich ihnen dazu keinen Anlaß gegeben habe. Ich habe ihnen nur helfen können, ihre inneren Waagen auszuwiegen. Du wirst ihnen nun die Aufgaben übertragen, an denen sie sich beweisen müssen. Sie werden sich beweisen; der eine als Krieger, der andere als Denker. Perdikkas ist ein Kämpfer; Harpalos ist ein Rechner; Alexander? Sein inneres System ist sehr fein, und sehr schwierig auszuwiegen. Weil seine Waagen feiner sind und seine Schalen größer als die aller Menschen, denen ich je begegnet bin. In ihm sind mehr Götter und Dämonen, als du und ich ertragen könnten. Solange seine Waagen ausgewogen sind, kann er sich zum größten König und wunderbarsten Führer von Männern entwickeln. Wenn aber eine Schale, die der Liebe oder der Gier oder der Tugend oder gleich welche, wenn also eine Schale und damit nur eine der zahllosen inneren Waagen deines Sohns das Gleichgewicht verliert, dann wird er die ganze Welt vernichten. Vielleicht.«
Philipp fuhr sich mit der Hand über die Augen und grunzte. » Klingt gefährlich. Wie soll ich mit ihm umgehen?«
» Vorsichtig, mein Freund. Und versuch, sein Freund zu sein.«
» Sein Freund? Ich bin der König, und sein Vater!«
Aristoteles lächelte. » Das ist ein Zufall. Freundschaft bedarf der Bemühung.«
12 .
Der Weg nach Chaironeia
Der sieche, säuerliche Ruch im Raum wurde stärker so wie die Stimme des alten Philosophen schwächer. Aristoteles hatte sich mehrfach vom Rücken auf die Seite und wieder zurückgerollt; dabei waren die Decken und die Felle in Unordnung geraten. Peukestas stand auf, dehnte sich und deckte den Sterbenden wieder zu; die Beine waren eiskalt.
Aristoteles dankte mit einer Handbewegung; er wies zum niederbrennenden Feuer, dann auf einen Stapel Rollen. » Diese nicht; es sind Abschriften von Briefen, die dir nützlich sein könnten. Alle anderen…«
Peukestas legte nach und fachte das Feuer wieder an. Der Philosoph sprach weiter, immer schneller, immer schwächer. Von Mieza, Pella und Stageira, von Philipp und Alexander und Pythias, die ihm alle Kraft und Wärme gab. Pythias, die sanfte, die allzu schmächtige Pythias, deren Leib zerriß und sich verblutete, als ein Jahr später, im Jahr der athenischen Kriegserklärung an Philipp, das so lange ersehnte Kind geboren wurde, die Tochter, die den Namen der Mutter erhielt. Mieza, das Nymphaion, das Philipp seinem Freund schenkte, damit weiter makedonische Fürstensöhne und andere dort unterrichtet werden konnten. Pella, die Hauptstadt, in der alle Fäden gesponnen wurden. Stageira, wo Aristoteles geboren war– ein Trümmerfeld, seit Philipp die Stadt hatte zerstören lassen, in dem Jahr, in dem auch Olynth fiel. Ein Jahr nach dem Ende von Alexanders Unterricht, vielleicht eineinhalb, sagte Philipp bei einer kurzen Begegnung in Pella, inzwischen habe er sich von den Vorzügen der Ausbildung in Mieza überzeugt: Er habe ihre Auswirkungen an seinem Sohn und anderen beobachten dürfen. Deshalb stünde Aristoteles noch etwas zu. Aristoteles bat um den Wiederaufbau seiner Geburtsstadt; und Philipp möge die Vertriebenen heimkehren lassen und die versklavten Stageiriten freikaufen.
» Ein königlicher Preis, und teuer«, sagte Philipp mit einer Grimasse.
Aristoteles verzog keine Miene. » Ich bin es wert. Dein Sohn ist es wert. Und du solltest dir für weniger zu schade sein.«
Es gab viele Gründe für den Philosophen, in Makedonien zu bleiben. Das Nymphaion mit seinen nahezu einzigartigen Möglichkeiten; der Wiederaufbau von Stageira, zum Teil nach Plänen, die in Mieza erarbeitet wurden; die Fortsetzung der begonnenen Arbeiten, zu denen nicht nur die Ausbildung junger Makedonen zählte, sondern auch die Erstellung der Listen des Wissens, aller verfügbaren Kenntnisse verschiedenster Sachgebiete; nicht zuletzt die fortdauernde Gunst des Königs und seines Thronschatzes, die mit den Jahren immer tiefere Freundschaft zu Antipatros– und die Tatsache, daß Aristoteles, Makedonenfreund und Fürstenbildner, in Athen nicht willkommen gewesen wäre. Das Herz von Hellas nahm ihn erst auf, als nach dem Untergang Thebens, nach dem Frieden, nach Alexanders Sieg und asiatischem Aufbruch die Stellung der Makedonenfeinde um Hypereides
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