Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Du bist streng. Und du vergißt, daß Wein auch andere Eigenschaften hat. Du hast den ersten und den letzten Schluck deines Bechers den Göttern hingegossen. Gift? Würdest du den Göttern Gift weihen?«
Etwas wie schneidender Spott lag in Alexanders Stimme. » Den Göttern? Da sie über allem sind, ist ihnen alles gleich geheiligt oder schändlich. Die Weinspritzer waren für den Unbekannten Gott.«
Der Korinther musterte die Illyrerin. Die kurze Nase warf keinen Schatten; der breite, volle Mund war ein wenig zusammengepreßt. Die braunen Haare, die in die Stirn fielen, waren schwarz in der Schwärze der Nacht und von einem fremdartigen Rot, wo sie die Glut des Feuers auffingen. Sie schien den Blick zu spüren und wandte ihm das Gesicht zu.
» Welche anderen Eigenschaften sollte Wein sonst noch haben?« sagte Alexander.
» Er wärmt. Er schmeckt, wenn er gut ist. Und er ist ein Band zwischen den Menschen. Wie gemeinsam erlittener Hunger oder eine gemeinsam durchfochtene Schlacht, so gibt auch gemeinsam getrunkener Wein Nähe und Wärme. Er kann die Nächte erhellen und die Reden fließen lassen. Sie werden dadurch nicht besser oder tiefer, aber angenehmer. Leichter zu ertragen. Und man schläft gut– danach.«
» Er nich schlaf«, sagte die Illyrerin. Zum ersten Mal hörte Demaratos ihre Stimme; sie war rauh und schartig, wie ein altes Messer, dessen Schärfe nicht mehr offensichtlich, aber durchaus noch vorhanden ist. » Er nich schlaf, auch nach Zusammenliegen er wach und lauf.«
Alexander starrte ins Feuer. » Nähe, Wärme… Der angenehme Druck, mit dem bisweilen das Bündel der tausend Halme, die ein Mensch ist und von denen er vielleicht ein oder zwei Dutzend kennt, zusammengebunden wird. Die wenigen Momente, in denen ich weiß, wer ich bin. Oder zu wissen glaube.«
» Das Bündel?« Demaratos gähnte und rieb sich die Augen. » Die Halme sind all die Dinge, die du in dir hast. Aber sie hängen auch ab von Dingen um dich her. Odysseus war Niemand, als er keine Heimat hatte. Um Jemand zu sein, brauchst du einen Ort. Mauern und Wände. Den Baum, in dessen Schatten du den einen Traum geträumt hast, an den du dich Jahre später erinnerst, wenn die gleiche Mischung aus Gerüchen wie damals wieder in deine Nase dringt– eine bestimmte Erde, Gras in Blüte, Eselskot, der Geruch der Füße und Kleider des Treibers, der eben vorübergeht, verschütteter Wein, Erbrochenes neben einem Brunnen, all das und mehr.« Er grübelte einen Moment. » Platon hat ein unbewohnbares Staatswesen erdacht, einen Un-Ort, an dem alle Niemand wären. Du hast vielleicht deinen Ort noch nicht gefunden.«
» Wo ist dein Ort, Demaratos?«
» Mein Ort? Korinth. Ich kann die Heimat verlassen, weil ich sie in mir trage. Ich bin immer mit einem Teil in Korinth, weil ein Teil von Korinth immer in mir ist.«
» Dieser Ort hier…« Alexander deutete mit dem rechten Arm ins Dunkel, dann auf das Haus, auf die Illyrerin, die ihn mit einem verhangenen Lächeln ansah. » Hier bin ich Jemand gewesen. Ich hatte Aufgaben– die Freunde zusammenhalten und antreiben, Häuser bauen, ein kleines Reich errichten. Es hat Augenblicke gegeben, Momente, in denen ich wußte, wer Ich ist. Es gibt Momente, in der Vereinigung zweier Körper, in denen die tausend Halme ein Bündel werden und das Bündel immer dichter gepreßt ist. Dann kommt der Moment des Wissens. Aber das ist zugleich der Moment der Auflösung, in dem die Halme weiter zerstreut werden als je zuvor. So scheint es, jedes Mal. Und da alle Frauen und Männer dies erleben, ist es vielleicht so, daß wir alle in diesem winzigen Moment, zwischen dichtester Bündelung und vollkommener Zerstreuung, wenn wir fühlen, daß wir Jemand sind, der sofort erlischt– vielleicht ist es so, daß wir in diesem Moment alle Menschen sind, daß keiner Jemand, sondern jeder Alle ist. Wie auch dann, wenn man Wissen weitergibt, das die Geschlechter und die Jahrhunderte angehäuft haben. Irgendwie bin ich Aristoteles, wenn ich ein Heilkraut so berühre, wie ich es von Aristoteles gelernt habe. Und sie«– er deutete auf die Frau– » wird irgendwie Alexander sein, wenn sie zu ihren Leuten zurückgeht und ihnen Dinge zeigt, die sie hier gesehen hat. Aber ich werde morgen ein anderer Alexander sein. Einer, der neben dir durch die Einöde reitet und nicht nach Pella heimkehren will, wonach er sich sehnt.«
» Vielleicht nennt dir dein Sehnen irgendwann den Ort, der dein ist. An dem du du sein wirst.«
Alexander
Weitere Kostenlose Bücher