Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
ausgestoßen hatte. Der Bauch war von einem tiefen Stich geöffnet; Eingeweide hingen heraus, quollen durch die Finger der rechten Hand, die im Tod noch immer verkrampft den Schnitt zu schließen suchten. Das Gesicht war verzerrt, die Zunge zwischen den Zähnen. Gesicht und Kleidung, soweit noch vorhanden, wirkten fremd, nicht nur durch den Tod. Der Mann mochte zwanzig Jahre alt gewesen sein, vielleicht ein Thraker, jedenfalls kein Makedone aus Pella. Alexander kniete neben ihm, tastete ihn ab; im Gürtel steckte ein Beutelchen mit Goldmünzen. Er nahm es an sich.
Summend, tänzelnd schwebte er zu den Feuern, schloß sich den Tänzern an. Ein junger, schlanker, dunkler Mann, einer der königlichen Leibtruppe, nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich. Alexander folgte ihm ein paar Schritte, dann befreite er sich und wanderte zwischen den Feuern hindurch. Jemand reichte ihm einen Becher mit unverdünntem, schwerem Wein; er trank, leerte ihn, warf ihn hoch. Unmittelbar neben den Musikern, betäubt von den Klängen und der schnell einsetzenden Wirkung des Weins, tanzte er mit älteren Frauen einen wirbelnden Rundtanz; sie nahmen ihn mit zu einem Feuer, an dem ein triefender Weinkrug kreiste. Er biß in Fleisch– Hammelbraten, mit Knoblauch eingerieben–, das eine Hand aus dem Halbdunkel ihm hinhielt. Jemand, Mann oder Frau, versuchte ihn zu küssen, Hände schoben sich unter seinen Chiton.
Er kicherte, löste sich, kroch zur Seite, kam schwankend auf die Beine. Nicht weit von ihm, von einem der letzten, äußersten Feuer beleuchtet, sah er eine junge Frau. Sie hatte langes, glimmend schwarzes Haar, eine dunkel schwappende Woge; sie tanzte allein. Das Haar fiel über die halb entblößten Schultern und die Decke, die sie als Umhang trug: eine rote Decke mit einem weiten Loch, durch das sie den Kopf gesteckt hatte. Sie war zerbrechlich und schmerzhaft schön; das Gesicht einer wunden Aphrodite oder Astarte zeigte Qual und Ekstase. Alexander war bei ihr, sie tanzten wie miteinander verwachsen. Die junge Frau öffnete die Augen, lächelte, küßte ihn, ohne die Bewegungen zu unterbrechen, dann sagte sie leise: » Oh, aber dein Atem ist süß.«
Sie küßten einander wieder, standen einen Moment starr und sahen sich in den Augen des anderen gespiegelt. Die Frau deutete mit dem Kopf, kaum merklich, zum Rand des Feuerkreises, zum Ende der Wiese, wo das offene Land begann. Musik, Stimmen, Trommeln und Feuerschein blieben zurück, als sie in den kleinen Wald gingen. Auf einer Lichtung neben dem Wasser übergossen Mond und Sterne sie mit Honigmilch. Sie blieb stehen, wandte ihm das Gesicht zu, lächelte traurig und entrückt; wie eine Schlange wand sie den Körper, so daß die rote Decke von den Schultern zu den Füßen hinabglitt. Ihre Brüste waren schwarz gefärbt, mit Silberstäubchen an den Spitzen. Sie war nackt. Sie hatte keine Arme.
Alexander stand einen Moment starr; zwei Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Er zerriß den Chiton endgültig, stieg aus dem Schurz, warf den Beutel des Toten auf die rote Decke. Die junge Frau ließ sich zu Boden sinken. Er legte sich zu ihr, nahm sie in die Arme, vergrub sein Gesicht zwischen den schwarzen Brüsten.
Im Innenhof der Burg, die gleichzeitig Palast und Festung war, staute sich trotz der frühen Stunde die Hitze. Es war die Hitze des Sommers, die Hitze der Bratfeuer, die Hitze der Körper. Keine Bilchmaus hätte noch Platz gefunden. An die dreitausend Mann Kerntruppen– Hetairenreiter und Pezhetairen– standen dort dicht an dicht, ohne Rüstung, in weißem Chiton, nur mit Lanze. Die schrägen Strahlen der Morgensonne machten die Spitzen zu einem Meer aus rötlichen Flammenzungen. Alle Offiziere der näheren Festungen waren da, mit Purpurschnüren auf dem Weiß der Schultern. Ebenfalls in Weiß, viele mit bekränzten Köpfen, standen die Fürsten der Städte und Lande Makedoniens bei den Kriegern; die älteren saßen auf Schemeln. Viele waren von den Feiern in Aigai und der Trauer um den toten König gleich nach Pella gekommen, statt in die entlegeneren Heimatgebiete zu reisen.
Am oberen Ende der Treppe, vor dem flachen Altarstein, brachten Alexander und Aristandros das übliche Opfer für die Götter dar: Fleisch, Brot, Früchte, Wein. Bei ihnen waren Medios, Antipatros, Archelaos und Alexandros von Epeiros; einige Stufen tiefer standen Antigonos und Demetrios, zu denen sich eben Kleitos gesellte: die Vertreter der Offiziere. Noch einer kam nun aus dem Hof, stieg die
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