Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
besaß, war Philipp.«
» Der Kriegsherr, der Eroberer– Waage und Maß?«
Aristoteles zog die Decken bis ans Kinn und schielte zum Feuer. » Mehr Licht, mehr Wärme.– Ja, Philipp. Er war ein kluger Mann, maßvoll in seiner Maßlosigkeit. Seine Waage war gewaltig, aber gerecht. Er hat an einem Tag gewaltig gezecht, aber am nächsten war er ebenso gewaltig nüchtern. Er hat Kriege geführt, um den Frieden führen zu können. Er hat die Hellenen vereint, mit der Waffe– friedlich wollten sie sich nicht einigen. Er hat ihnen im Inneren die alten Gesetze gelassen und sie nur gezwungen, die Zwietracht zu beenden.«
Peukestas lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. » Ich bin Makedone«, sagte er langsam; » ich ehre das Andenken von Alexanders Vater. Aber Friedensfürst, Waage, Maß?« Er stand auf, ging zum Feuer, legte Holz und Papyros nach. » Vielleicht weiß ich nicht genug …«
Aristoteles schnitt eine Grimasse. » Niemand weiß genug. Die meisten wissen entweder zuviel oder zuwenig.«
Peukestas kehrte zu seinem Schemel zurück. » Ich weiß zuviel von Asien. Zuwenig von Hellas. All dies hier ist so– winzig. So gering. Ich habe mit Alexander die Sonne sinken sehen über Siwah und aufgehen über den Grenzbergen Indiens; ich habe der Mittagssonne von Babylon getrotzt und in der Nacht von Persepolis gebebt; ich habe im Oxos gebadet und im Nil, den der göttliche Homer Aigyptos nannte. Hellas war immer mit uns und in uns– die Wörter, die Gedanken, die Verse, die Gebräuche. Aber nun, da ich Hellas sehe, ist es schäbig und wiegt… so viel.« Er zeigte die leere Hand und drehte die Handfläche nach unten.
Aristoteles schwieg einige Momente. » Hellas«, murmelte er; dann, kräftiger: » Hellas ist ein Mensch, allein, unter der Sonne und den Göttern; alles denken im gleißenden Mittag, der keinen Schirm oder Schatten bietet; nicht wissen, ob man lebt, wohl aber, daß man sterben wird; die Musik und die Worte und die Formen; Homer, Sokrates und Lysippos. Hellas ist aber auch die Dämmerung der Götter, der Seher; das zuckende, kreischende Zwielicht der Mysterien; all der Halbschatten, in den jene fliehen, die den gleißenden Mittag und die Einsamkeit des Denkens nicht ertragen. Die Nacht der Angst und Knechtschaft, die schartigen Schatten der Zwietracht. Lichtes Begreifen der Tugend und strahlende Taten der Tugend, aber auch schäbiges Schachern um Vorteile. Folgenlose Erkenntnis, hintergangenes Wissen, verkaufte Freundschaft, gemeuchelte Liebe. Unter den Dingen ist allein der Mensch fähig zur Vernunft; unter den Menschen allein der Hellene zur Vernunft verpflichtet. Hellas ist diese Pflicht zu Vernunft, Denken und Tugend; Hellas ist auch die unausgesetzte Verletzung dieser Pflicht. Immer hat es großartige Barbaren gegeben, die durch Gnade, Zufall oder Willen aus dem Schatten in den Mittag getreten sind, die in hohem Grade Tugend und Vernunft besaßen– obwohl sie Barbaren waren. Tugend und Vernunft ablegen kann aber nur der, dem sie durch Erbe, Erziehung und Vorbilder angelegt wurden. Ein Barbar kann Mensch werden, nicht aber tierischer Schurke; das kann nur ein Hellene– weil er Hellene ist. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Hellene ist das Maß aller Menschen. Die Oikumene im weiten Sinn ist die von Menschen und Barbaren bewohnte Welt, soweit wir sie kennen; im eigentlichen Sinn ist Oikumene jener Teil der Welt, der durch Menschen bewohnbar gemacht wird: aus dem Barbaren verschwinden. Ägypten, Babylon und Karchedon sind Teile der Oikumene insofern, als sie in gewissen Dingen mit Hellas übereinstimmen. Hellas ist nicht die Leere, die Alexander unersättlich in sich spürte und ausfüllen wollte; Hellas ist die Fülle, die Philipp erkannt hat und zur ruhigen Mitte machen wollte, zur Nabe, zum Nabel.«
Peukestas schloß die Augen. » Ein Bienenschwarm in meinen Ohren«, sagte er wie ein alter müder Mann, » Hornissen in meinem Hirn, Ameisen in meinem Herzen. All das wäre Hellas– und Philipp soll es gewußt haben?«
Aristoteles blickte ihn beinahe mitleidig an. » Er wußte es. Parmenion wußte es auch. Wie Philotas, Kallisthenes und Kleitos. Hellas ist ein Gefäß, das auf dem Sockel seiner Vorzüglichkeit steht. In diesem Gefäß war ein Einsatz mit vielen Kammern, und all diese Kammern waren gefüllt mit Wein. Viel Wein, viele Sorten guten Weins. Nach außen war das Gefäß vielfach gesplittert, aber nur wenig Wein lief aus. Philipp hat die hellenische Amphore
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