Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
unterstützte Männer sich in mehreren Städten zu Tyrannen aufschwangen, zog Philipp nach Thessalien und vertrieb die Tyrannen; er gab den Städten ihre alte Ordnung und ihre alten Freiheiten zurück und wurde zum Bundesfeldherrn gemacht. Dann kam der Heilige Krieg: Die Phoker, in deren Land das Heiligtum von Delphi liegt, das sie zu hüten hatten, der Tempel des Apollon, von Hellenen aus der ganzen Oikumene besucht, um das Orakel zu befragen, von der ganzen Oikumene geheiligt und mit Schätzen versehen– die Phoker hüteten das Heiligtum nicht länger, sondern plünderten es; sie verwandten die Tempelschätze, um Söldner anzuwerben und zur größten Macht in Hellas zu werden.
» Einigkeit hätte nun herrschen sollen.« Aristoteles rümpfte die Nase. » Aber… Hellas ist niemals das gewesen, was es der Idee Hellas gemäß hätte sein sollen. Hundertdreißig Jahre nach der Schändung hellenischer Tempel durch Xerxes war die Empörung immer noch groß genug, um einen Sühnefeldzug gegen Persien zu verlangen; jedenfalls bei vielen. Aber die Schändung des Heiligtums von Delphi wurde nicht für sich betrachtet, sondern im Hinblick auf den Nutzen. Einige wollten die Phoker bestrafen; andere eigentlich auch, aber sie verbündeten sich dann doch mit ihnen, weil der thessalische Bundesfeldherr Philipp ihnen bedrohlicher erschien als eine Vorherrschaft der ruchlosen Tempelschänder.«
» Du verfällst«, sagte Peukestas ohne Schärfe.
Aristoteles blinzelte. » Wie?«
» Du verfällst. Deine Reden über Hellas waren besser. Als Lobredner Philipps überzeugst du mich nicht.«
Aristoteles sah ihn reglos an.
» Ich sollte es nicht sagen. Es steht einem kleinen Krieger und Schreiber nicht zu, den großen Philosophen zu rügen. Aber das, was du sagst, und die Art, in der du es sagst… Es hilft mir nicht, die Dinge zu verstehen. Es gibt mir keine Gewalt über die Dinge, Aristoteles. Ich kann mir nicht selbst einen Weg durch das Labyrinth suchen, denn du schreibst mir deinen vor.«
Aristoteles hüstelte. » Ei wie denn nun füglich, o Theaitetos«, murmelte er.
Peukestas schob den Schemel zurück; er stand auf und ging zu einem der Regale, dann zum Feuer, zum Fenster, wieder zurück zu den Papyrosrollen. » Das Kind, das die Hebamme Aristoteles hervorholen soll, ist schon gezeugt. Es ist noch nicht ganz reif, aber man muß es nicht verformen.«
Der Philosoph grinste. » Du hättest fünfundzwanzig Jahre eher geboren sein sollen; dann hättest du in Platons Akademie viele feine Stunden erleben können.«
Peukestas schüttelte den Kopf. » Dann hätte ich Philipp mein Schwert gewidmet. Dann wäre ich bei all den Ereignissen dabeigewesen und brauchte heute niemanden zu fragen. Weder makedonische Führer, deren Anliegen es ist, ihre eigene Bedeutung hervorzuheben, noch den sterbenden Stageiriten in Chalkis, der mir nicht von den Dingen berichtet, sondern seine Ansicht der Dinge vorträgt.«
» Haben die Dinge denn Wesen und Wahrheit außerhalb meiner Wahrnehmung? In dem Moment, da ich schwinde, wird auch dieses Haus schwinden– für mich.«
» Aber nicht für mich. Nicht einmal du wirst dann für mich schwinden. Ich werde dich weiterhin sehen, eine gewisse Zeit, als Leichnam.«
Aristoteles wischte mit der rechten Hand über die Decke. » Du verwirrst die Dinge, Kind. Du siehst dann einen Leichnam. Das Behältnis dessen, was einmal Aristoteles war. Der Unterschied zwischen Aristoteles und diesem Tisch, der wesentliche Unterschied, nicht die Abweichungen in der Gestalt, wird schwinden, wenn mein Leben schwindet. Es wird kein Aristoteles mehr sein, also auch kein Tisch und kein Haus– für Aristoteles.«
» Wohl aber für Peukestas. Und Pythias.«
» Ah, das sind andere Häuser und Tische. Sie haben nichts mit mir zu tun. Niemand steigt zweimal in denselben Fluß– wie wir wissen. Entweder hat sich der Fluß verändert, oder der Mensch. Es steigen aber nicht einmal zwei Menschen gleichzeitig in denselben Fluß. Für jeden ist der Fluß anders. Wie das Haus, der Tisch, der König der Makedonen. Für mich ist dieses Haus letzte Wohnung, hassenswert und abscheulich, denn ich werde in der Verbannung sterben. Für dich ist es vielleicht ein bedeutender Ort, denn hier hat der alte Aristoteles dir gezeigt, daß er nicht mehr fähig ist, einen jungen Makedonen weiße Dinge schwarz sehen zu lassen.« Er schloß die Augen. Sein Lächeln wirkte schwermütig; aus den herabgezogenen Mundwinkeln sickerte es in den Bart und
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