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Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands

Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands

Titel: Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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verschwand. » Früher hätte Aristoteles so etwas mühelos gekonnt.«
    Peukestas unterbrach seine Wanderung; er blieb vor der Liege und dem Tisch stehen. » Früher hätte Aristoteles so etwas nicht getan. Hast du mir nicht, als wir über Sokrates, Platon und dich sprachen, vom Denken gesagt, daß es sich mit den Dingen an sich befassen sollte, nicht mit den Dingen im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit für ein vorher entworfenes Gebäude?«
    Aristoteles gluckste. » Lange Arbeit, harte Arbeit; zu lang und hart für einen sterbenden Greis, der mit jeder Sekunde kindischer wird. In allen Mysterien gibt es die Versenkung. In Indien, hörte ich, sagen weise Männer ihren eigenen Namen tausendmal und mehr, bis er keinen Sinn hat. Oder den Namen eines Gottes. Erst wenn aller Sinn daraus gewichen ist, läßt er sich betrachten. Eine Idee, ein Ding, ein Wort oder eine Verknüpfung… Erst wenn alle Bedeutung, die durch Sprache, Denken, Gewohnheit, langen Umgang daran haftet wie eine dicke Farbschicht– erst wenn all diese Bedeutungsschichten durch Denken, Bedenken, Betrachten, Verwerfen abgekratzt sind, kann das wirkliche Denken beginnen.« Er richtete sich mühsam auf, starrte in Peukestas’ Augen. » Erst dann, Makedone– aber bis ich aus dem Licht in den ewigen Schatten trete, der vermutlich weniger Schatten als vielmehr Abwesenheit von Licht ist, bleibt nicht genug Zeit, um auch nur ein einziges Wort, ein einziges Ding zu denken.«
    Peukestas schwieg, blickte in die Augen des alten Mannes, der immer noch auf die Ellenbogen gestützt verharrte. Mit einer Kraftanstrengung riß der Makedone sich los, wandte das Gesicht den Rollen zu, in den Ständern an der Wand, neben dem verhängten Durchgang zur Küche.
    » Zuerst hast du mich in das Amulett schauen lassen und mir Bilder gezeigt, deine Bilder, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Dann hast du mir Wörter gegeben, deine Wörter, die deine Bilder und Gedanken darstellen, gegen die ich mich erst jetzt wehre. Wohin willst du mich bringen?«
    Aristoteles lachte gepreßt. » Du hast deine Sicht der Dinge mitgebracht. Ich muß dir meine Sicht der Dinge geben. Die Tugend ist in der Mitte; vielleicht auch die Wahrheit. Aber was ist Wahrheit? Vielleicht sind von dir bis zur Wahrheit zwei Schritte, vielleicht sind von mir bis zur Wahrheit auch zwei Schritte. Wenn ich dir sage, was vielleicht die Wahrheit ist, wirst du einen Schritt gehen und immer noch einen Schritt von der Wahrheit entfernt sein. Wenn ich dir meine Sicht sage und dich zum Widerspruch bringe, wirst du vielleicht zwei Schritte gehen und am Ende nicht deine und nicht meine, sondern die Wahrheit der Dinge finden.«
    Peukestas rieb sich die Augen, ließ die Hände sinken, hob sie dann über den Kopf wie ein Ertrinkender, der nach treibendem Holz langt, von dem er nicht weiß, ob es nicht doch ein Krokodil ist. » Du weißt, was ich suche.« Seine Stimme war belegt.
    » Du suchst nicht die Wahrheit. Du suchst einen Brief, in dem Alexander mir vielleicht geschrieben hat, wer nach seinem Tod das Reich bewahren kann und soll.«
    » Ist dieser Brief, wenn es ihn gibt, denn nicht eine Wahrheit– Alexanders Wahrheit?«
    » Was ist Wahrheit? Wir reden von Wünschen, die von aller Wahrheit gleich weit entfernt sein mögen. Der Wunsch des Eroberers, daß nach seinem Tod die Beute nicht aufgeteilt werde. Der Wunsch eines Diebes, eines Helden, eines Halbgottes? Der Wunsch eines Makedonen, einen Brief zu finden, mit dem er ein großes Gemetzel abzuwenden hofft? Der Wunsch eines Hellenen, daß dieses Gemetzel stattfinde, damit Hellas wieder frei sei von der Fesselung an Barbaren? Der Wunsch eines Sterbenden, der Hellas und das Reich Alexanders vielleicht für gleichermaßen unbedeutend hält und abwägen will, welches das geringere Übel ist und wo die Tugend liegt?«
    Peukestas deutete auf das Feuer, auf die Wände mit Regalen, auf die Rollen. » Gibt es diesen Brief? Ist er schon verbrannt? Hat es ihn je gegeben?« Er wandte sich wieder Aristoteles zu.
    Der Philosoph lächelte; seine Blicke überflogen die Rollen, die Röhren, die Fächer, die Ständer. Peukestas beobachtete ihn scharf, aber der Blick verweilte nirgendwo lange; unmöglich, auf eine bestimmte Rolle zu schließen.
    » Es hat einen Brief gegeben.« Aristoteles ließ sich aufseufzend aufs Lager sinken. » Es gibt ihn noch. Ich weiß, wo er ist; ich kann ihn sehen.«
    » Was steht darin? Welcher Name? Soll ich die Hände falten, vor dir knien?«
    » Du wirst den

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