Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Sklavin und ich werden tun, was zu tun ist. Vater, den Bottich?«
Peukestas verließ das Haus. Die Sonne war weit nach Südwesten gewandert; im klaren Nachmittagslicht lag der Brückendamm im Wasser des Euripos wie eine zerschnittene Larve auf silbrigem Tuch. Ein pfeilförmiger Schwarm großer Vögel flog von Norden her tief über die Wasserstraße zwischen Aulis und Chalkis. Durch die gelben und hellroten Blumen der Ebene näherte sich ein Reiter, einer der Kataphrakten.
Am Brunnen dösten die übrigen Männer. Sie hatten die Vorderbeine der Pferde zusammengebunden und Wasser in einen alten rissigen Trog gefüllt. Die Tiere konnten trinken und grasen, sich aber nicht entfernen.
Der Makedone kam heran und glitt von seinem Reitfell. » Es gibt Unterkunft– und Wein.« Er grinste. » Die hatten riesige Vorräte angelegt, und dann sind fast drei Viertel der Truppe abgezogen worden.«
Das Pferd stand am Trog; es trank, schnaubte und schlug mit dem Schweif. Peukestas lächelte.
» Klar, da müßt ihr helfen, keine Frage. Versorgt mein Pferd und laßt es hier. Wir treffen uns morgen, irgendwann vormittags, in Chalkis. Und laßt die Frauen heil.«
Durch die nicht länger verhängte Fensteröffnung zum winzigen Innenhof sickerte mildes Licht in den Raum. Aristoteles, von Pythias gestützt, trank eben die letzten Schlucke aus einem Napf und ließ sich wieder in die Kissen sinken.
Die Frau blickte Peukestas an. » Hast du Hunger?– Ich bring dir eine Schale davon. Und Brot?«
» Sehr gern, danke.«
Sie nahm den leeren Napf und ging. Aristoteles versuchte, ein Rasseln in der Brust wegzuhusten. Er schaute zum Feuer; Holz und Papyros brannten mit stetiger Flamme.
» Es ist sinnlos, ein Feuer zu machen und das Fenster zu öffnen.« Die Stimme des Sterbenden klang immer noch kräftig und frisch. » In der Sinnlosigkeit wohnt keine Tugend, aber jeder Genuß, dem die Mitte fehlt, ist sinnlos.«
Pythias brachte Brot und eine Schale duftender Brühe. Kleine Fleischstücke schwammen darin, mit Lauchstreifen und gerösteten Hirsekörnern. Peukestas dankte Pythias, die sich wieder zurückzog; Aristoteles sah zu, wie der Makedone die Schale an die Lippen setzte und die heiße Brühe schlürfte und kaute.
» Tugend ohne Mitte ist keine Tugend.« Der Philosoph starrte an die Decke; seine rechte Hand kroch wie selbständig über die Felle: ein großer humpelnder Käfer, eine verstümmelte Spinne. » Tugend ist nur in der Mitte. In der Zeit, von der wir reden, gab es die Mitte nur bei Philipp.«
Peukestas schluckte Fleisch und Hirse; er blies über die heiße Flüssigkeit. » Keine Tugend in Athen, dem Nabel und der Mitte von Hellas?«
Aristoteles schnaubte leicht. » Alles ist wie ein großes Rad. Es dreht sich, es rollt; es befördert Menschen und Waren, wenn es an einem haltbaren Karren befestigt ist; es dient als Töpferscheibe und zu anderen Dingen. Aber: Die Nabe muß ruhen, der Mittelpunkt darf nicht beben oder wandern. Als ob in der Nabe eine Waage wäre, die alles in ruhigem Gleichgewicht hält… Deshalb sollte, wer Gesetze macht, alles bedenken: die Seelen, die Taten, die Folgen, die Ziele. Und die Lebensformen. Ein kluger Gesetzgeber sorgt dafür, daß die Menschen fähig sind, Plagen und Kriege zu bestehen, aber vor allem, daß sie in Ruhe und Frieden leben können. Das Nötige und Nützliche, aber auch und besonders das Rechte und Edle. So sollten Lehrer und Eltern arbeiten, so die Politiker, die Vormund des Ganzen sind. Aber… Athen? Oder Sparta? Oder Theben oder andere hellenische Staaten?« Aristoteles runzelte die Stirn, hob den Kopf ein wenig und spuckte auf den Boden neben der Liege.
» Keine Tugend also in Athen?«
» Sie sind nie von dem ausgegangen, was richtig oder förderlich ist, immer nur von schnellem Gewinn. Ohne die Folgen zu bedenken. Sie haben ihre Völker nur zu dem Zweck kriegstüchtig gemacht, andere zu versklaven. Der Gesetzgeber muß aber die Bürger dazu bringen, kriegstüchtig zu sein, damit sie ihre Freiheit schützen können, nicht, damit sie andere unterwerfen. Das Ziel darf immer nur die Erhaltung oder Bewirkung eines für alle erträglichen Zustands sein. Friede ist der Sinn des Kriegs, nicht umgekehrt. Alle Politiker, die ich sah, wußten dies nicht. Sie konnten Schwerter schleifen, wenn es zum Krieg ging, aber sie ließen die Schneiden stumpf werden im Frieden. Sie haben nie begriffen, wie man Frieden führt, nur, wie man Krieg führt. Der einzige, der eine Waage und ein Maß
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