Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
die langweilige Gegendarstellung?
Als ich in mein Büro zurückkehrte, war meine sonst so unverwüstliche Sekretärin den Tränen nahe. Das Ehepaar Sander hatte Anzeige gegen mich erstattet, wie sie eben von der Staatsanwaltschaft erfahren hatte. Wegen übler Nachrede, Rufschädigung sowie anhaltender Vernachlässigung meiner Dienstpflichten.
Nun würde es also Vernehmungen geben, bei denen ich plötzlich an der anderen Seite des Tisches saß. Schlimmstenfalls, wenn es ganz schlecht lief, würde ich vorübergehend von meinen Aufgaben entbunden. Und natürlich gäbe es jede Menge miserable Presse. Ich verfluchte mich dafür, dass ich die heiklen Gespräche gestern allein geführt hatte. Ich war allein gegangen, weil man auf diese Weise oft rascher das Vertrauen der Menschen gewinnt und mehr von ihnen erfährt.
Weil es für niemanden angenehm ist, sich mit zwei Fremden gleichzeitig zu unterhalten.
Aber was, wenn einer meiner Gesprächspartner die Sache anders darstellte als ich? Was, wenn auf einmal Aussage gegen Aussage stand?
Mit Abstand betrachtet, war meine Situation nicht sonderlich aufregend. Natürlich war die Staatsanwaltschaft letztlich auf meiner Seite. Aber wenn man unversehens mittendrin steckt in einem solchen Schlamassel, dann entwickelt man eine ungeahnte Kreativität darin, sich die schlimmsten Verwicklungen und gemeinsten Intrigen auszumalen.
Nach einem ohne Appetit hinuntergeschlungenen Essen ließ ich mir die Akten bringen. Alle. Ich bat Sönnchen, mir am Nachmittag alles vom Hals zu schaffen, was nicht unaufschiebbar war.
An einem lähmend heißen Hochsommernachmittag war es gewesen, am Sonntag, den fünften August. Gegen halb drei hatte Gundram Sander laut Aussage seiner Mutter sein Elternhaus verlassen. Er hatte ein wenig mit seinem neuen Rad herumfahren wollen, das er erst seit wenigen Tagen besaß. Dass er allein draußen spielte, war nicht ungewöhnlich. Das Viertel war sicher, Autoverkehr auch an Werktagen kaum vorhanden. Wie immer hatte Natascha Sander ihrem Sohn eingeschärft, wo die Grenzen seines kleinen Reviers lagen: Nach links die ruhige Anwohnerstraße hinunter bis zur Einmündung in die nächste größere Straße. Nach rechts bis zur Wendeschleife. Der dahinterliegende Wald war schon wieder verbotenes Gebiet.
Bisher hatte er diese Regeln immer respektiert. Gundram schien überhaupt ein Kind zu sein, das Verbote achtete. Meist hatte er allein gespielt. Viele Spielkameraden und Attraktionen gab es ohnehin nicht im näheren Umkreis, da das Viertel hauptsächlich von älteren Paaren und Familien mit erwachsenen Kindern bewohnt war. So war Gundram einige Male einsam und ziemlich langsam die Straße hinauf- und hinuntergeradelt, hatte dabei Geräusche gemacht wie ein Rennwagen mit defektem Auspuff. Einmal sei er sogar ein klein wenig gestürzt, sagte später eine ältere, alleinlebende Nachbarin aus. Er habe jedoch nicht geweint, sondern sei tapfer wieder aufgestiegen und weitergefahren. Von nun an allerdings ohne Motorengeräusche.
Der Vater war an jenem Tag – wie so oft – allein mit seinem Mountainbike unterwegs gewesen. Bei diesen Touren legte er meist mehrere hundert Kilometer zurück, gerne im Schwarzwald und dort am liebsten auf den unwegsamsten und steilsten Strecken.
Selbst was der Junge am Tag seines Verschwindens getragen hatte, war akribisch dokumentiert. Es existierte ein am Vormittag desselben Tages aufgenommenes Foto. Der Vater hatte es geknipst, als Gundram sich zur allerersten Ausfahrt mit seinem niegelnagelneuen silbermetallicfarbenen Rad mit siebenundzwanzig-Gang-Shimano-Schaltung aufmachte. Adrette Jeans, dazu ein weiß-gelb gestreiftes Poloshirt und einen für den Tag viel zu warmen roten Kapuzenpulli, den er vernünftigerweise bald ausgezogen zu haben schien.
Als die Nachbarin ihn irgendwann zwischen drei und Viertel nach drei an ihrem Küchenfenster vorbeifahren sah, hatte sie jedenfalls nichts Rotes an ihm bemerkt. Vermutlich hatte der Pulli sich zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Gepäckträger befunden, ordentlich gefaltet, wie sich das gehört für ein wohlerzogenes Kind. Dazu trug Gundram weiße Puma-Sportschuhe mit blassblauen Verzierungen. Sogar Farbe und Marke seiner Unterhose (dunkelblau, Calvin Klein) sowie die der Söckchen (hellblau, Falke) waren in unseren Akten vermerkt.
Während ich blätterte und las und mir hin und wieder Notizen machte, fiel mein Blick auf den Zettel mit Namen und Nummer der Frau, die ich auf Wunsch meiner
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