Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Überraschend hübsche Kinder, hatte ich mir sagen lassen.
Ich entschuldigte mich für die Störung seines Urlaubsfriedens. »Wenigstens haben Sie da unten Ruhe vor Kriminellen«, scherzte ich.
»Oh, die gibt’s hier schon auch«, brummte er. »Ganoven gibt’s ja leider Gottes überall.«
»Was passiert denn so im Markgräflerland?«, fragte ich belustigt. »Weinpanscherei? Traubendiebstahl? Fahrerflucht mit dem Traktor?«
»Im Frühjahr zum Beispiel, da hat einer im Nachbardorf seine Frau umgebracht. Bloß ein paar Kilometer von hier, in Auggen. Nächste Woche fängt der Prozess an. Und vor ein paar Jahren ist auch mal ein Kind verschwunden. Die Wirtin hat’s mir gestern beim Frühstück erzählt, wie sie gehört hat, dass ich bei der Kripo bin. Ein Mädchen.«
Ich griff nach einem Kugelschreiber. »Wie alt?«
»Elf, glaub ich.«
Zögernd legte ich den Stift wieder hin. Pädophile blieben bei der Wahl ihrer Opfer meist berechenbar. Einer, der auf Jungs steht, vergreift sich nicht an Mädchen. Einer, der Kinder im Vorschulalter bevorzugt, interessiert sich meist nicht für solche am Beginn der Pubertät. Mir war kein Fall bekannt, bei dem der Täter seine Opfer ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter ausgewählt hatte.
Zudem hatten meine Mitarbeiter selbstverständlich längst den Fall Sander mit all denen verglichen, die in der zentralen Datei des Bundeskriminalamts gespeichert waren. Das gehörte zum Standardprogramm: Übereinstimmungen suchen, Ähnlichkeiten im Vorgehen des Täters, in der Wahl der Opfer, des Tatorts, der Tatzeit. Sie hatten nichts gefunden. Nach derzeitiger Lage der Dinge hatten wir es nicht mit einem Serientäter zu tun.
Als ich den Hörer auflegte, wurde mir bewusst, in welch einer perversen Situation ich mich befand: Dass Gundram Sander von einem Pädophilen gefangen gehalten wurde, war im Grunde meine letzte Hoffnung. In diesem Fall wäre er immerhin noch am Leben. Alle anderen denkbaren Szenarien bedeuteten nach so langer Zeit seinen sicheren Tod.
Nach dem Gespräch mit Rolf Runkel hatte mich eine merkwürdige Unruhe ergriffen. Das Wort Serientäter ging mir plötzlich nicht mehr aus dem Kopf.
Nur zur Sicherheit loggte ich mich beim BKA ein und fand auch rasch den Entführungsfall, den Runkel erwähnt hatte. Das verschwundene Mädchen hieß Andrea Basler. Der Fall lag etwas mehr als drei Jahre zurück. An einem Julinachmittag war Andrea allein unterwegs zum Schwimmbad in einem Nachbarort gewesen. Sie war jedoch niemals dort angekommen. Auch in diesem Fall gab es keine Lösegeldforderung, auch Andrea war samt Fahrrad wie vom Erdboden verschluckt, und auch hier gab es weder Zeugen noch Spuren.
Das Foto zeigte ein strahlendes Mädchen mit dicken blonden Zöpfen, das problemlos die Hauptrolle in einem Heidi-Film hätte spielen können.
Ich habe einmal von einem Mann gelesen, der ganz allein eine Wanderung durch eine gottverlassene Wildnis im Norden Kanadas machte. Es war ein so abgelegenes Stück Erde, dass er erst am vierten oder fünften Tag auf einen anderen Menschen traf. Auch dieser war zu Fuß unterwegs. Auch er war Deutscher, wie man rasch und zur beiderseitigen Erheiterung feststellte. Damit nicht genug, kamen sie aus derselben Stadt, ich meine, es war Dortmund, und wohnten seit Jahrzehnten in derselben Straße, wenn auch auf verschiedenen Seiten. In ihrer Heimatstadt waren sie sich wissentlich noch nie begegnet. Es gibt sie, diese aberwitzigen Zufälle, die einem kein Mensch glauben will. Jeder von uns kann die eine oder andere Geschichte dieser Art erzählen.
Ich weiß nicht, wie viele Zufälle zusammenkommen mussten, damit Tim Jörgensen schließlich zu einem offiziellen Fall wurde. Wäre ich eine Minute später oder früher zum Essen gegangen, dann hätte ich Balke nicht auf der Treppe überholt. Hätte ich nicht mein Portemonnaie im Büro vergessen, dann wäre ich nicht noch einmal zurückgegangen. Und hätte sie nicht genau zu diesem Zeitpunkt angerufen, dann wüsste ich bis heute nicht einmal, dass Balkes alte Mutter noch lebt.
Balke stammte aus dem Norden, aus einem Örtchen in der Nähe von Bremerhaven. Man sah es an seinen weißblonden Haaren und stahlgrauen Augen, und man hörte es natürlich am Tonfall.
»Nein, Muttchen, ehrlich, das stimmt nicht«, sagte er mit verhaltener Stimme in sein Handy, wobei er mich verlegen angrinste. »Ich besuche dich sehr gerne. Und ich schlafe mit Freuden in meinem alten Zimmer, nur …«
Er wandte mir den Rücken zu,
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