Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
habe durch Zufall erfahren, dass Tim seit Wochen nicht mehr gesehen worden ist. Und ich würde gerne sicher sein, dass es ihm gut geht.«
»Tim geht es sogar sehr gut. Er ist bei seiner Tante. Er war den Winter über so viel krank, und unser Hausarzt meinte, eine Luftveränderung würde ihm guttun.«
»Weiter weiß ich, dass seine Tante seit Wochen im Krankenhaus liegt.« Ich sprach jetzt sehr leise und eindringlich. »Und ich fände es wirklich besser, wenn wir das drinnen besprechen könnten.«
Im Nachbarhaus, wo vermutlich Frau Weberlein wohnte, bewegten sich die Gardinen.
»Marien im Krankenhaus?«, fragte Frau Jörgensen entgeistert. »Wir haben doch gestern Abend noch telefoniert!«
»Ich spreche von Helga Jörgensen, der Schwester Ihres Mannes.«
Erleichterung huschte über ihr Gesicht. Sie ließ die Tür los.
»Tim ist bei Marien, meiner Schwester auf Korfu. Sie ist dort verheiratet. Meinem Sohn geht es wirklich gut. Sie können ganz unbesorgt sein.«
Da hatten meine beiden Hilfsdetektive wohl nicht richtig hingehört. Ich wollte mich schon verabschieden, doch irgendetwas in der Miene dieser Frau gefiel mir nicht. Vielleicht war ihre Erleichterung eine Spur zu groß gewesen.
»Wäre es möglich, kurz mit Ihrem Mann zu sprechen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber ich würde mich wohler fühlen …«
»Muriel?« Im Haus rumorte etwas. Eine brüchige Stimme rief mit zunehmender Ungeduld mehrfach ihren Namen: »Muriel!«
»Nein«, erwiderte Tims Mutter mit gehetztem Blick über die Schulter. »Das ist nicht möglich. Und wenn Sie jetzt bitte gehen würden. Ich muss mich um Vater kümmern.«
Als ich ihr die Hand zum Abschied reichen wollte, war die Tür schon ins einbruchsichere Schloss gefallen.
Bevor ich abends meine Schreibtischlampe ausknipste, suchte ich noch einmal den zerknautschten Zettel heraus, der unter einen Aktenstapel gerutscht war, und wählte die Nummer, die mit Mädchenschrift darauf notiert war. Das Gespräch mit Tim Jörgensens Mutter ging mir nicht aus dem Kopf.
»Weberlein?«, gellte die wohlbekannte Stimme.
»Hier ist noch mal Gerlach von der Kripo.«
»Ah, Sie schon wieder.« Sie klang ein wenig enttäuscht. »Dass Sie um die Zeit noch arbeiten. Sind Sie das gewesen, der heut Mittag bei der Frau Jörgensen gewesen ist? Was sagt sie?«
»Das möchte ich eigentlich nicht am Telefon …«
»Also ist der arme Tim tatsächlich weg.«
»Er ist bei seiner Tante, und es geht ihm bestens.«
»Aber Sie denken, dass da irgendwas nicht stimmt. Ich hör’s an Ihrer Stimme.«
»Ich denke im Augenblick noch gar nichts.«
»Wie geht das denn, nichts denken? Ach so, Sie sind ja Beamter.«
Ich atmete zweimal tief durch.
»Frau Weberlein, weshalb ich anrufe: Wie erreiche ich den Vater? Herrn Jörgensen?«
»Der ist auch weg, das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Hat sie sitzen lassen. Wen wundert’s.«
»Wann ist er ausgezogen? Und vor allem, wohin?«
»Wo der hin ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Im September hat man ihn irgendwann auf einmal nicht mehr gesehen. Das hat sie jetzt von ihrem aufgeblasenen Getue. Erst läuft ihr der Mann davon und jetzt anscheinend auch noch die Putzfrau. Bei der hält’s einfach keiner aus.«
»Ihre Putzfrau hat gekündigt? Wann war das?«
»Weiß nicht. Mir ist bloß aufgefallen, dass sie schon länger nicht mehr kommt.«
An diesem Abend hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis. Als ich gegen acht endlich nach Hause kam, hörte ich Musik aus dem Zimmer der Zwillinge. Es war »Echo of a night«, ein Titel, der in den letzten Wochen ständig im Radio lief. Eine dieser Girlie-Groups, die meist so schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Aber es klang anders als sonst. Der Soundtrack war original, aber es sangen andere Stimmen. Junge, klare Stimmen. Und sie sangen nicht einmal schlecht, die beiden. Jedenfalls um Welten besser als das Original.
Plötzlich brachen erst der Gesang und kurz darauf die Musik ab. Dann hörte ich meine Töchter eifrig diskutieren. Erst als der Soundtrack wieder startete und der Gesang von vorn begann, wurde mir klar, dass ich Ohrenzeuge einer Karaoke-Übung meiner Zwillinge war. Hatten sie etwa wieder einmal eine neue Leidenschaft entdeckt? Womöglich kamen nun die Gitarren doch noch zu Ehren, die sie sich vor Jahren so innig gewünscht und nie benutzt hatten?
Während ich den Tisch deckte, hatte ich das Vergnügen, das Lied noch mehrmals anzuhören, sodass ich den Refrain bald auswendig
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