Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Geschlechts hier jahrelang hatten zusammenleben können, ohne dass irgendwann der Leichenbeschauer gerufen werden musste.
Der Vermieter behielt das Handy diesmal gleich in der Hand und sah mich an wie ein gutmütiger Lehrer seinen Schüler, dem auf eine Idiotenfrage immer noch keine Antwort eingefallen war.
Ich entschied mich, lieber noch ein wenig weiterzusuchen.
Die restlichen vier Wohnungen auf meiner Liste waren inzwischen vergeben. Der Nieselregen hatte sich zu einem gemäßigten Wolkenbruch gemausert, und so kam ich gegen Mittag durchnässt, halb erfroren und mit mörderischer Laune nach Hause.
»Du könntest ruhig mal ein bisschen stolz auf deine Töchter sein!«, maulte Sarah beim Mittagessen. Zwischen dem Gemüserisotto, das ihnen zu meiner Verblüffung sogar schmeckte, und dem Salat, den sie wieder einmal nicht anrührten, lagen die Fotos von dem Jungen, der nicht Tim Jörgensen war.
»Ich geb’s zu. Ihr habt recht gehabt.«
»Wenn wir nicht gewesen wären …«, nuschelte Louise mit vollem Mund.
»Aber jetzt raus mit der Sprache: Wer ist dieser geheimnisvolle Freund, der die Fotos gemacht hat?«
»Ein Kumpel von Sam«, gestanden sie widerstrebend. »Er jobbt da unten in einem Hotel.«
Ich legte die Gabel zur Seite und nahm die Bilder noch einmal zur Hand.
Der Junge, den sie zeigten, war stämmig, braun gebrannt und einige Jahre älter als Tim. Auf dem ersten Foto sah man ihn ein weiß gestrichenes Haus verlassen, das ebenso gut in einem Heidelberger Vorort oder in der nördlichen Hälfte der USA hätte stehen können. Auf dem zweiten überquerte er eine menschenleere Straße, an deren Rändern staubige Mittelklasseautos parkten. Auf dem dritten schließlich wartete er an einer belebten Kreuzung auf Grün. Hier gab es Reklameschilder, die griechische Schriftzeichen trugen.
»Wir haben uns das Haus mal bei Google Maps angeguckt.«
Triumphierend schob Sarah mir einen weiteren Computerausdruck über den Tisch, der reichlich unscharf einen Vorort irgendeiner Stadt der Welt aus der Vogelperspektive zeigte. Mit ihrem schmalen Zeigefinger deutete sie auf eine bestimmte Stelle. Ihr »Da!« klang, als würde dieses Bild den letzten Beweis liefern – wofür auch immer.
»Pavlos wohnt erst seit einem Jahr bei der Tante, hat Sams Kumpel rausgefunden. Trotzdem nennt sie ihn ihren Sohn. Komisch, nicht?«
»Meinst du, die hat auch einen Jungen entführt?«
»Jetzt hört aber auf!« Um ein Haar hätte ich aufgelacht. »Ihr wollt nicht doch ein bisschen Salat?«
Nein, wollten sie nicht.
Mein Montag begann mit einer Zeitungsmeldung, die mir schon beim Frühstück die Laune ruinierte: Auch die Rhein-Neckar-Zeitung hatte inzwischen von meinem neuen Image als Saubermann Heidelbergs Wind bekommen und lobte ausführlich meine Entschlossenheit, gegen Kleinkriminelle künftig keine Gnade mehr walten zu lassen. Über Nacht war ich vom Buhmann, gegen den ein internes Ermittlungsverfahren wegen Vernachlässigung seiner Dienstpflichten und Schlimmerem lief, zum Star des harten Besens mutiert. Zu meiner Überraschung gelang es mir sogar, den Artikel ohne Brille zu lesen. Meine Sehfähigkeit schien seit Neuestem vom Wetter oder der Mondphase abzuhängen.
Von Tims Verschwinden stand noch immer nichts in der Zeitung. Sollten wir bis Mittwoch nicht weiterkommen, würden wir an die Öffentlichkeit gehen, hatte ich entschieden. Drohung der Entführer hin oder her.
Balke wirkte zugleich müde und angespannt, als er am späten Vormittag unerwartet vor meinen Schreibtisch trat. In den letzten Minuten war draußen überraschend die Sonne durchgebrochen und vergoldete die Stadt, als müsste sie uns für die Dunkelheit des Wochenendes entschädigen.
»Kann man Ihnen mit einem Alka-Seltzer einen Gefallen tun?«, fragte ich. »Oder gibt es andere Probleme?«
»Gibt’s die nicht immer?«, fragte er missmutig zurück. Er betrachtete die zwei DIN-A4-Blätter in seiner Hand, als wäre er sich plötzlich unschlüssig, ob er sie mir wirklich zeigen sollte.
»Setzen Sie sich doch.«
Gehorsam nahm er Platz.
»Ihnen liegt immer noch die Trennung von Nicole im Magen, stimmt’s?«
Sein Blick bekam etwas Feindseliges.
»Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mit ihr auszusprechen?«
»Auszusprechen?« Balke klang, als hätte er das Wort noch nie gehört.
»Manchmal hilft das.«
»Nicole spricht nicht mehr mit mir. Schließlich habe ich sie ja im Sommer hochkant vor die Tür gesetzt.«
»Haben Sie es denn schon mal
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