Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
versucht?«
Er senkte den Blick wie ein verstocktes Kind.
»Vielleicht geht es ihr wie Ihnen? Vielleicht wartet sie nur auf Ihren Anruf?«
Im Vorzimmer tippte Sönnchen leise summend etwas in die Tastatur ihres PC. Mein Vormittag war bisher ruhig verlaufen. Dennoch war ich die ganze Zeit nervös gewesen. Irgendwann war mir bewusst geworden, dass es neben dem neuen Vermisstenfall noch einen zweiten Grund gab für meine Unruhe: Seit Tagen wartete ich nun schon auf den Anruf der Staatsanwaltschaft. Noch hatte ich von dem Ermittlungsverfahren gegen mich nichts gespürt. Vermutlich trug man erst einmal die Fakten zusammen. Hörte die Bänder dieser verfluchten Pressekonferenz ab, sah sich die Videoaufzeichnungen an. Wenn ich mich nur hätte erinnern können, was genau ich gesagt hatte.
Nebenbei hatte ich es immerhin geschafft, einigen Kleinkram wegzuarbeiten, sodass mein Schreibtisch im Augenblick ungewohnt aufgeräumt war. Etwas in Balkes Miene ließ mich fürchten, dass dies nicht lange so bleiben würde.
»Was ist das?«, fragte ich mit Blick auf seine Blätter, da über das Thema Nicole offenbar nicht mit ihm zu reden war.
»Rübe ist seit heute aus dem Urlaub zurück.«
Behutsam legte er die Papiere mit der bedruckten Seite nach unten auf die Tischplatte. »Und vorhin beim Kaffee hat er Klara und mir von einer bis heute nicht aufgeklärten Kindesentführung erzählt. Vor drei Jahren war das, da unten im Markgräflerland. Sie wissen schon davon, sagt er.«
Klara Vangelis trat ein, nickte uns stumm zu, nahm Platz und zückte ihr Notizbuch. Sönnchen tippte und summte immer noch.
»Damals ging es um ein Mädchen«, sagte ich. »Außerdem war das Opfer fast doppelt so alt wie Gundram und ungefähr dreimal so alt wie Tim.«
»Dasselbe habe ich auch gedacht.« Balke nickte finster. »Passt nicht, habe ich gedacht, Gott sei Dank.«
Er drehte das erste seiner Blätter um. Es zeigte das Bild, das ich schon von den Fahndungsseiten des BKA kannte. Andrea Basler mit ihren dicken blonden Zöpfen. Im Hintergrund waren andere Kinder zu sehen. Ein gepflegter Garten, gemähter Rasen, blühende Büsche, Sommer. Ganz am Rand zwei blendend weiße Tische voller Teller, Gläser, bunter Kuchen und Saftkannen. Kindergeburtstag.
»Sie haben völlig recht.« Balke sah mich wütend an. »Auf den ersten Blick spricht nichts für denselben Täter. Aber leider haben alle eine Kleinigkeit übersehen.«
Vangelis reckte den Hals, um besser sehen zu können. Täuschte ich mich, oder benutzte sie seit Neuestem ein anderes Parfüm?
»Das Foto hier ist ungefähr zwei Wochen vor der Entführung gemacht worden«, fuhr Balke fort. »Ich habe vorhin lange mit der Mutter telefoniert.«
Endlich drehte er das zweite Blatt um. Ich schaltete die Schreibtischlampe ein, da die Sonne sich schon wieder hinter Wolkengebirgen verzogen hatte. Auf den ersten Blick war das Bild identisch mit dem ersten. Bis auf einen winzigen, aber wichtigen Unterschied: Andrea hatte plötzlich kurze Haare. Knabenhaft kurz geschnittene Haare.
»Sie ist am Tag vor der Entführung beim Frisör gewesen. Hatte sie sich zum Geburtstag gewünscht, dass sie endlich die blöden Zöpfe abschneiden darf. Es existiert aber kein Foto von ihr aus der Zeit danach. Und irgendwie ist dann wohl das Heidi-Bild in die Akten geraten.«
»Woher haben Sie das zweite Bild?«
»Vorhin am PC selbst retuschiert.«
»Wenn man es nicht besser wüsste«, meinte Vangelis leise, »könnte man sie glatt für einen Jungen halten.«
»Und außerdem sieht sie mit dieser Frisur viel jünger aus«, fuhr Balke unerbittlich fort. »Sie hat ungefähr die gleiche Größe wie Gundram Sander. Auf einmal passt alles perfekt ins Muster.«
Mir wurde kalt. Es war wie ein Déjà-vu: Wie Gundram war Andrea allein unterwegs gewesen. Mit dem Rad. An einem Sommernachmittag. Auch hier hatte man das Rad später nicht gefunden.
»Der Täter muss einen Wagen mit ziemlich großem Kofferraum fahren«, grübelte Balke, »wenn da ein Fahrrad samt Kind reinpasst.«
Ich nahm das retuschierte Bild zur Hand und lehnte mich zurück. Natürlich war ein retuschierter Computerausdruck kein Beweis. Aber Andrea war verschwunden, die Tatabläufe ähnelten sich verblüffend, und vielleicht hatte der Täter in der Aufregung tatsächlich nicht bemerkt, dass er ein Mädchen und keinen Jungen erwischt hatte. Oder gab es womöglich bisexuelle Triebtäter? Warum nicht? Es gibt ja kaum etwas, was in diesem Bereich der menschlichen Abgründe
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