Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
schmerzhaft perfekte Idylle.
»Bist du von der Polizei?«, waren seine ersten, unsicheren Worte. »Ich glaub, ich hab dich im Fernsehen gesehen!«
»Komm.« Ich streckte ihm eine Hand hin. »Es ist vorbei.«
Erschrocken schüttelte er den kleinen blonden Kopf.
»Er tut der Mama weh, wenn ich abhaue.«
»Das gilt nicht mehr. Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat mir erlaubt, dich heimzubringen.«
Meine Hand war immer noch ausgestreckt. Schließlich nickte der für seine sechs Jahre noch ziemlich kleine Junge, kletterte vom Bett, schaltete Fernseher und Licht aus, packte meine Hand mit festem Griff. Wir stiegen die Treppe hinauf.
»Waren sie böse zu dir?«, fragte ich.
»Wenn ich brav war, nicht. Aber der Adam, der kann ganz schön schimpfen, wenn man ihn nervt. Die Annabell, die ist eigentlich nett. Sie ist nur … ein bisschen komisch.«
Unsicher, ob man so etwas über Erwachsene sagen durfte, sah er zu mir auf.
»Was heißt das, komisch?«
»Manchmal sagt sie so Sachen. Und sie nennt mich dauernd Peterle. Sie glaubt einfach nicht, dass ich Gundram heiße. Sie hört es nicht mal, wenn ich es sage. Immer sagt sie nur: ›Ja, ja, Peterle‹ und streicht mir über den Kopf. Blöd, nicht?«
»Das kommt daher, weil sie einmal einen Sohn hatte, der Peter hieß.«
»Was ist mit dem?«
»Er ist gestorben. Und davon ist sie krank geworden. Im Kopf.«
»Hat sie ihn tot gemacht?«
»Nein. Es war ein Unfall. Er war genau so alt wie du und war auch blond und hat auch allein draußen gespielt. Und da ist er mit seinem Rad auf die Straße gefahren und unter ein Auto gekommen.«
Gundram klammerte sich immer noch so fest an meine Hand, dass es fast wehtat. Ernst nickte er.
»Die Mama sagt auch immer, ich soll aufpassen. Jedes Mal, wenn ich rausdarf, sagt sie das. Das nervt mich total.«
»Bist du deshalb weggefahren?«
»Ich bin doch kein Baby mehr! Ich kenn schon fast alle Verkehrszeichen. Papa hat sie mir beigebracht.«
»Wolltest du deine Mutter ärgern?«
»Ich wollt nicht raus. Ich wollt lieber SpongeBob gucken. Aber immer wenn der blöde Sergej kommt, dann muss ich verschwinden. Weiß auch nicht, was an dem so toll ist und warum ich nicht dabei sein darf.«
»Deine Eltern werden bald hier sein.«
»Hast du sie angerufen?«
»Ja. Und sie haben sich gefreut wie verrückt.«
Wir durchquerten das Wohnzimmer und verließen das Haus durch die Terrassentür. Ich wollte nicht, dass das Kind sah, was sich zurzeit vor dem Haus abspielte. Dort marschierten gerade meine Truppen auf. Rettungswagen fuhren vor, die nichts mehr retten würden.
Hand in Hand traten wir hinaus in die kalte Novemberluft. Inzwischen konnte man die Sonne hinter weißen, hohen Schleierwolken erahnen. Gundram begann schon nach wenigen Sekunden zu frösteln.
Unendlich langsam, als könnte er jeden Moment wieder zupacken, ließ er meine Hand los.
Annabell Crocoll war sofort tot gewesen. Der Stich hatte sie mitten ins Herz getroffen. Bei sich selbst hatte ihr Mann nicht so viel Glück gehabt. So kam er später noch einmal zu Bewusstsein und bestätigte im Großen und Ganzen alles, was ich mir inzwischen zusammengereimt hatte.
»Sie hat so entsetzlich gelitten«, murmelte er mit bläulichen Lippen. »Sie hat sich nie verzeihen können, dass sie unser Peterle damals für eine Sekunde aus den Augen gelassen hat … Nicht zu ertragen, wie sie leiden musste. Weil sie einmal, ein einziges Mal, nur für ein paar Minuten …«
»Und da sind Sie irgendwann auf die aberwitzige Idee gekommen, Ersatz für Peterle zu beschaffen.«
»Ständig musste sie diese schrecklichen Tabletten nehmen. Sie war überhaupt nicht wiederzuerkennen. Das Herz hat es mir zerrissen … Nachts hat sie nach Peterle geschrien. Am Tag hat sie stundenlang aus dem Fenster gesehen … Nichts hat geholfen, keine Medikamente, keine Therapie. Es war zum Verzweifeln …«
»Wie sind Sie dann auf den Gedanken gekommen, ein Kind zu entführen?«
»Mein Bruder war einmal zu Besuch bei uns, mit seiner Frau und seinen drei Kleinen. Der Jüngste war ungefähr in Peteries Alter … Und auf einmal war meine Annabell nicht mehr wiederzuerkennen. Sie wollte sich gar nicht mehr trennen von dem Jungen. Es war schon fast peinlich, wie sie an dem Kind klebte. Und dann …« Seine trüber Blick ging jetzt ins Unendliche. »Es war so einfach. Beim ersten Mal, da hat mich im letzten Moment der Mut verlassen.«
»Das war Nikolas.«
Er nickte, als lauschte er auf innere Stimmen. »Wenige Tage
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